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Atomkatastrophe
in einem AKW jederzeit möglich
Marko Ferst
1. Reaktoren in Deutschland sind nicht frei von Störfällen
Beim Betrieb eines Atomkraftwerkes werden Urankerne (Uran-235) mit Neutronen
beschossen. Das kurzlebige Zwischenprodukt Uran-236 entsteht. Dieser
Kern zerplatzt mit hoher Energie. Bewegungsenergie wandelt sich in Wärme
um. Es entsteht ein radioaktiver Cocktail aus mehr als 100 Spaltprodukten.
Bei älteren AKW wird der Betrieb immer gefährlicher. Verarbeitungsmängel
oder rißanfälliger Stahl können dazu führen, daß Rohrleitungen
brechen und kontaminiertes Kühlwasser herausströmt. Fehlt eine
ausreichende Kühlung, überhitzt der Reaktor. Infolge kann es
zu einem größten anzunehmenden Unfall (GAU) kommen. Risse
in Rohrleitungen sind in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen,
1995 zum Beispiel in Biblis B. 2002 riß in Neckarwestheim-2, dem
neuesten Atomkraftwerk in Deutschland, ein Wärmeschutzrohr.
Das deutsche Atomrecht sah vor, wird einem Reaktor der Betrieb genehmigt,
dann ist diese Genehmigung bis 2001 unbefristet gewesen. Nach wie vor
kann selbst ein völlig veraltetes, hochgefährliches Atomkraftwerk
bis zu seinem flexiblen Stillegungstermin nach Atomkonsens in Betrieb
bleiben, obwohl es unter dem Sicherheitsaspekt längst nicht mehr
dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Viele der deutschen
Atomkraftwerke, die heute noch laufen, wären als Neuanlagen bei
deutschen Behörden schon seit vielen Jahren nicht mehr genehmigungsfähig
gewesen, trotz verschiedenster Maßnahmen zur Modernisierung und
Wartung. Biblis A und B, Obrigheim (der älteste betriebene Reaktor
in Deutschland), die Druckwasserreaktoren Unterweser und Nekarwestheim
1 gehören in diese Kategorie, ebenso wie die erste Generation der
Siedewasserreaktoren in Brunsbüttel, Philipsburg 1 und Krümmel.
Als diese Kraftwerke geplant und gebaut wurden, waren die heute gültigen
kerntechnischen Regelwerke und die ihnen zugrunde liegenden Sicherheitsanforderungen
noch nicht formuliert. Die Entflechtung der Notfallsysteme lag weit entfernt
von heutigen Anforderungen. Sie können gemeinsam versagen. Mängel
im Brandschutz sind zu verzeichnen.
Aus den Sachverhaltsdarstellungen des Bundesumweltministeriums für
den Atom-Arbeitskreis der Ministerien vom 12.8.1999 geht hervor, daß man
bei der Risikoabschätzung von AKW-Unfällen nicht berücksichtigt
hat, daß in 97% der Fälle mit einem frühen Containmentversagen,
also einem Versagen des Sicherheitsbehälters, zu rechnen ist. Dies
stellte man in der „Deutschen Risikostudie Phase B“ von 1989
fest. Daraus folgt, die Gefahrenpotentiale wurden um weit mehr als den
Faktor 10 unterschätzt in früheren Studien. Wenn in der Regel
damit zu rechnen ist, daß bei einem schweren Unfall sich innerhalb
von wenigen Stunden massive radioaktive Freisetzungen vollziehen, so
ist auch der Schutz durch Maßnah-men der Katastrophenabwehr massiv überschätzt
worden.
Früher wurde davon ausgegangen, man hätte bis zu vier Tage
für eine Evakuierung Zeit. Schnelles Containmentversagen und damit
keine wirkliche Phase für Evakuierungen spitzen die Lage extrem
zu, so die offizielle Einschätzung. Hinzu kommt, daß Sicherheitssysteme,
die einem größten anzunehmenden Unfall (GAU) entgegenwirken,
vielfach sogenannte Handmaßnahmen, von der richtigen Situationseinschätzung
des Personals abhängen. Daraus zieht man in dem Papier des Bundesumweltministeriums
den Schluß, alle laufenden Atomkraftwerke wären nach diesem
Maßstab heute nicht mehr genehmigungsfähig und entsprechen
nicht mehr dem Sicherheitsstandard, der vom Atomgesetz nach dem derzeitigen
Stand von Wissenschaft und Technik gefordert ist.
In vielen Ländern gelten die eigenen Reaktoren als die sichersten
der Welt. Auch von deutschen Anlagen wird dies regelmäßig
behauptet von Teilen der Wirtschaft und der Politik. Doch es gibt keine
deutschen Reaktoren in Betrieb. Siemens und AEG bauten einst die Siede-
und Druckwasserreaktoren in Lizenz von General Electric und Westinghouse.
Auch die originalen Sicherheitsvorkehrungen sind Importergebnis. Unstrittig
ist, amerikanische AKW gehören im Verhältnis zu Anlagen etlicher
anderer Länder zu den zuverlässigeren. Doch offiziell zugegeben
werden mußte, es existieren über 200 schwerwiegende ungelöste
Sicherheitsfragen. Wesentliche Sicherheitsunterlagen wurden verfälscht,
um die Anlagen für den Betrieb genehmigt zu bekommen.
Problematisch ist, mit der Untersuchung der vielfältigen Sicherheitsanforderungen
in den Atomkraftwerken und den Nachweisen dafür sind die wenigen
Fachbeamten in den Aufsichtsbehörden der Länder und des Bundes
oftmals überfordert. Sie verlassen sich auf die Aussagen von Gutachten.
Doch es existieren auch nur wenige Gutachter und TÜVs, die wiederum
auf die lukrativen Aufträge aus der Atomenergie angewiesen sind.
Also gibt es ein Netzwerk aus Abhängigkeiten und mangelnden Kontrollmöglichkeiten,
was dazu führen kann, daß wichtige sicherheitstechnische Aspekte
fehleingeschätzt werden. Ob die Reaktorsicherheitskommission, als
diesbezüglich oberstes Expertengremium in Deutschland, diese Schwachstellen überbrücken
kann, bleibt eher zu bezweifeln. Die „Basissicherheit“ der
Atom-kraftwerke, zugesichert durch die Betreiber und Gutachter, wird
nicht jeden möglichen technischen Störfall ausschließen
können. Festzustellen ist, die noch im Atomkonsens ausgehandelten
Betriebsjahre für die AKW werden auf einem geringeren Sicherheitslevel
ablaufen als der bisherige Betrieb. Die Anlagen werden älter, und
infolgedessen tauchen Verschleißerscheinungen in höherem Maße
unvermeidlich auf, die dann auch Auslöser für Störfälle
werden können.
Zwar ist ein Unfallablauf wie in Tschernobyl in deutschen AKW nicht möglich,
weil die deutschen Atomreaktoren die konstruktiven Mängel der sowjetischen
RMBK-Reaktoren nicht aufweisen. Doch gibt es auch für die deutschen
Reaktoren zahlreiche Hinweise darauf, daß die Möglichkeit
zu größten anzunehmenden Unfällen besteht. Ein solcher
kann zum Beispiel bei Leichtwasserreaktoren hervorgerufen werden durch
eine heftige Explosion von Wasserstoffgas, wie es frühzeitig im
Verlauf einer Kernschmelze entsteht. Schlagartige Freisetzungen sind
möglich durch Dampfexplosionen oder das Durchschmelzen des Reaktorkessels
bei hohem Innendruck. In diesen Fällen bietet auch der stählerne
Sicherheitsbehälter mit der umgebenden Stahlbetonhülle keinen
Schutz.
Große radioaktive Freisetzungen sind auch möglich innerhalb
weniger Stunden, wenn der Sicherheitsbehälter nicht dicht ist bei
einem Reaktorunfall. Eine Schwachstelle sind die zahlreichen Rohrleitungen,
die ihn durchdringen. Auch wenn der Sicherheitsbehälter zunächst
standhält, kann der Innendruck später so hoch werden, daß er
zerstört wird oder gezielt eine Freisetzung durchgeführt wird,
um den Druck abzubauen.
Knapp vor der großen Katastrophe stand 1987 der Block A vom Atomkraftwerk
Biblis. Es handelt sich um den bisher schwersten Störfall in einem
deutschen Atomkraftwerk. Der Sicherheitsbehälter wäre wirkungslos
geblieben. Ein wichtiges Ventil blieb beim Hochfahren des Reaktors versehentlich
offen und ließ sich nicht schließen. Dies wurde drei Arbeitsschichten
lang übersehen. Dann spielten die Ope-rateure ein waghalsiges Spiel:
Durch Öffnen eines zweiten Ventils sollte das Klemmen des anderen
beseitigt werden. Damit war der Beginn eines „Super-GAU“ eingeleitet,
Kühlmittel strömte aus dem Reaktor heraus. 107 Liter radioaktiven
Wassers liefen aus. Bei mehr Verlust hätte das Notkühlsystem
einspringen müssen. Reines Glück war es, daß das klemmende
Ventil sich sieben Sekunden nach diesem Schritt löste. Anderenfalls
bräuchte man wahrscheinlich heute nicht mehr über die Auslaufzeit
der Reaktoren in Deutschland verhandeln. Sie wären vermutlich stillgelegt.
Für den Reaktorfahrer der Bedienmannschaft hatte der Unfall Folgen:
Er starb ein Jahr später an Leukämie. Noch eine andere Folge
stellte sich ein: Die US-Atombehörden waren wenig erbaut über
die Informationspolitik der deutschen Seite. Diese hatte den Unfall
einfach versucht zu vertuschen und ihn geheimzuhalten. Ein amerikanischer
Informationsdienst deckte den Unfall Ende 1988 auf. Da dieses Störfallszenario
bislang nicht bekannt war, wollten die amerikanischen Behörden auf
diese Möglichkeit hingewiesen werden.
Ein anderer schwerer Zwischenfall ereignete sich 1978 im Atomkraftwerk
Brunsbüttel. Ein Stutzen der Frischdampfleitung riß ab. Drei
Stunden lang strömten etwa 145 Tonnen radioaktiv verseuchter Dampf
ins Freie. Eine Katastrophe fand nur deshalb nicht statt, weil der Reaktor
auf niedrigem Leistungsniveau gefahren wurde und ein nicht beabsichtigter
Kurzschluß den Reaktor automatisch abschaltete.
1992 schrammte Schweden an einer Kernschmelze vorbei, auch deutsches
Gebiet hätte bei ungünstiger Windrichtung mit radioaktiven
Nukliden überzogen werden können. Ein Leck im Kühlwassersystem
trat auf. Das Notkühlsystem mußte eingeschaltet werden. Es
löste sich durch den entstehenden Druck Isoliermaterial, verstopfte
die Siebe vor den Ansaugöffnungen. 50 Minuten vergingen, die Situation
wurde kritisch. Die Betriebsmannschaft schaltete die Notkühlung
aus, um die Siebe freizuspülen. Der Reaktor lief zum Glück
zu diesem Zeitpunkt nur noch mit sehr geringer Leistung, sonst hätte
die Situation schnell äußerst kritisch werden können.
Der Störfall Bärsebeck in Schweden führte dann auch in
Deutschland zu Konsequenzen. Alle Notkühlsysteme der Reaktoren in
Deutschland wurden überprüft.
2. Was können wir aus der Atomkatastrophe in Tschernobyl lernen?
Eine Kernschmelze in einem deutschen Atomkraftwerk hätte gegenüber
dem Tschernobylreaktor die abweichende Folge, daß die radioaktiven
Stoffe auf einer kleineren Fläche, dafür aber stärker
konzentriert niedergehen würden. Der Graphitbrand in dem russischen
AKW führte zu einem starken Aufwind, der die radioaktiven Stoffe
in große Höhen aufsteigen ließ und sehr weiträumig
und verdünnt die Partikel verteilte. Bei einem deutschen Unfall
würde sich die Ausbreitung auf einige hundert Kilometer vom Unglücksort
beschränken und in diesen Gebieten eine höhere Strahlenbelastung
hervorrufen entsprechend der Verteilung durch die Windverhältnissen,
weil die Freisetzungshöhe über dem Kraftwerk deutlich niedriger
wäre.
Hinzu kommt, Reaktoren wie Krümmel und Brockdorf mit 1300 Megawatt
wären erheblich größer als der Tschernobylreaktor. Wegen
seiner militärischen Nutzung wurde der sowjetische Reaktor mit weniger
Abbrand gefahren, die Brennelemente häufig ausgetauscht, während
bei normalen Kraftwerken in Deutschland die Elemente bis zu 6 Jahren
genutzt werden können. Im Unglücksfall würde dieser Umstand
zu erheblich mehr radioaktiven Freisetzungen wie in Tschernobyl führen.
Dort war der Unfall im Vergleich zu den Möglichkeiten auch glimpflich
verlaufen. Nur weniger als fünf Prozent der Strahlung wurden freigesetzt.
Das waren allerdings immer noch 6,4 Milliarden Curie.
Die westlichen Reaktoren sind sicherer, wenn es darum geht, bei kleineren
Unfällen Radioaktivität zurückzuhalten. Der Innenraum
der Anlagen ist voluminöser, es existiert ein massiver Reaktordruckbehälter
und ein schweres Reaktorgebäude. Bei den älteren Anlagen sind
diesbezüglich Abstriche zu machen. Im Reaktorgebäude wird im
Fall einer Kernschmelze jedoch ein sehr viel höherer Druck aufgebaut
als beim ukrainischen Unglücksreaktor. Daher können die deutschen
Reaktoren wie Bomben explodieren.
Bei der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl wurde ein Gebiet verstahlt,
ungefähr drei mal so groß wie die Schweiz. Zwei Drittel von
Weißrußland sind radioaktiv beeinträchtigt, 70 Prozent
des Fallouts gingen dort nieder. Wie ein überdimensionierter Zangenkopf,
nach Westen leicht offen, ziehen sich verstrahlte Gebiete um die weißrussische
Hauptstadt Minsk bis zur polnischen Grenze. 23 Prozent der Fläche
Weißrußlands wurden 1986 mit mindestens einem Curie pro Quadratkilometer
allein durch Casium-137 verseucht. Die höchstbelasteten Gebiete
mit Cäsium-137 befinden sich direkt nordwestlich vom Reaktorstandort
und in 100 bis 200 Kilometer Entfernung in nordöstlicher Richtung
zwischen Gomel, Mogiljow und Brjansk. Einige Gebiete südlich von
Moskau ungefähr auf der Höhe von Kaluga müssen auch dazugezählt
werden. Eine unregelmäßig geformte Todeszone, die völlig
entsiedelt ist, mit einem Durchmesser von ungefähr 60 Kilometern,
zieht sich um die Kernkraftwerksstadt Pripjat. Regionale radioaktive
Flecken reichen von der Grenze zu Polen bei Brest, bis an die Schwarzmeerküste
nach Georgien. Fast alle westgeorgischen Rayons wurden belastete Zonen,
mehr als 1000 Kilometer vom Reaktor entfernt. Man schätzt, ungefähr
neun Millionen Menschen bekamen eine deutlich erhöhte Strahlung
ab.
Erhöhte Werte von radioaktivem Cäsium-137 finden sich bis etwa
Kasan, rund 900 Kilometer östlich von Moskau. Von dort bildet die
Fläche ein Dreieck bis hinunter zur nordöstlichsten Spitze
des Asowschen Meeres, und die dritte Seite führt fast hinauf bis
Smolensk. Moskau selbst ist verschont geblieben. Ein größerer
belasteter Landstrich befindet sich bei Petersburg und Nowgorod. Belastungen
sind in Rumänien, in großen Teilen Moldawiens, besonders stark
in Österreich und Slowenien, im mittleren Teil von Schweden sowie
Norwegen, dort auch nordwestlich von Oslo zu finden. Der ganze südliche
Teil von Finnland betroffen. Auch in Teilen Bayerns sind erhöhte
Werte signifikant. Eine detaillierte Karte befindet sich im Anhang.
Der zerstörte Reaktor des 4. Energieblocks feuerte ungefähr
50 Tonnen radioaktive Substanzen in die Atmosphäre und das Umfeld.
Uranoxid in Form von Feindispersionsteilchen, hochradioaktive Nuklide
von Jod-131, Plutonium-239, Neptun-139, Cäsium-137, Strontium-90
und viele andere Radioisotope wurden freigesetzt. Hinzu kommen 70 Tonnen
Brennstäbe, die nicht direkt aus der aktiven Zone des Reaktors stammten.
700 Tonnen radioaktiven Reaktorgraphits wurden ins unmittelbare Umfeld
des Atomkraftwerks ausgeworfen. Dieses Unglück hatte das radioaktive
Verstrahlungsausmaß von rund 300 Hiroshimabomben.
Aufschlußreich ist eine erste Prognose des Gesundheitsministeriums
der UdSSR aus den Monaten nach der Reaktorkatastrophe. Für die 75
Millionen Menschen, die im europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion
leben, rechnete man im Laufe der kommenden 70 Jahre mit 40.000 Todesfällen,
dabei 5.000 Fällen von Leukämie. Gegenüber dem normalen
Faktor prognostizierte man 23.000 zusätzlich Fälle an Mißbildungen.
Die Angaben verstand man als vorläufige Schätzung, die bei
genauerer Kenntnis der Dosisbelastungen im Land entsprechend korrigiert
werden müßte. Inzwischen dürfte man sich längst
weit über diesem Level bewegen.
Evakuierungsgebiete gibt es bis in 150 Kilometer Entfernung vom Unglücksreaktor,
einzelne Ortschaften wurden sogar in 400 Kilometer Entfernung für
mehrere Jahre evakuiert. In Deutschland sind interessanterweise in Katastrophenschutzplänen
außerhalb einer 25 Kilometerzone keine umfassenden Schutzmaßnahmen
vorgesehen. Es gibt keine vorbereiteten Pläne zur Evakuierung. Sie
dürften damit nur sehr bedingt zu gebrauchen sein.
Die volkswirtschaftlichen Schäden des Tschernobylunglücks werden
auf ungefähr 3 Billionen Euro geschätzt. Letztlich läßt
sich der Schaden nicht in Geld angeben. Belarus muß nach wie vor
rund ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes für die Bewältigung
der Katastrophe einsetzen. Eine außerordentliche Tschernobyl-Steuer
von 18 Prozent des Lohnfonds bei allen Betrieben wird erhoben. In Kiew
wurde ein eigenes Tschernobyl-Ministerium eingerichtet.
Durch die Zerstörung des Blocks 4 im Kernkraftwerk bei Tschernobyl
in der Ukraine mußten mehr als 500.000 Menschen auf Dauer ihre
Wohnungen und Häuser verlassen. Nach wie vor gibt es Ortschaften,
wo eine Umsiedlung schon unmittelbar nach dem Unglück geboten gewesen
wäre. Gegenüber den dortigen Siedlungsgebieten weist Deutschland
eine durchschnittlich 10fache Besiedlungsdichte auf. Mehrere Millionen
Menschen müßten umgesiedelt werden, wenn in einem der 18 deutschen
Atomkraftwerke ein größter anzunehmender Unfall eintritt.
Besonders schwerwiegend wäre es, wenn eine Millionenstadt wie z.B.
Hamburg davon betroffen wäre. Gerade hier wurden im weiteren Umfeld
viele Atomkraftwerke gebaut. Das ist schon von Anfang an ein gefährliches
Spiel gewesen, dem man bei der Planung Einhalt hätte gebieten müssen.
Die deutschen Behörden sind nicht mal in der Lage, innerhalb des
engeren Kreises um die AKW die vorsorgende Austeilung von Jodtabletten
angemessen zu organisieren. Sie sollten unmittelbar vor Ort greifbar
sein für jeden. Das scheint eine zu schwierige logistische Aufgabe
zu sein. Da dies außerdem zu teuer ist, müssen sich die über
45jährigen die Schilddrüse schlicht verstrahlen lassen. Sie
bekommen keine Tablette. Diese sorgt dafür, daß die Schilddrüse
mit normalem Jod abgefüllt wird, bevor sich das bei einem Atomunfall
freigesetzte Jod-Isotop 131 festsetzen kann. Radioaktives Jod löst
Schilddrüsenkrebs aus. Außerhalb der 25-Kilomterzone ist
der Bund für die Verteilung der Jodtabletten zuständig. Wie
diese zentral gelagerten Bestände im Ernstfall rechtzeitig bei den
betroffenen Bürgerinnen und Bürgern ankommen sollen, bleibt
ungeklärt. Diese medizinische Maßnahme kann allerdings nur
gegen konkret eine Schädigung helfen. Viele andere Folgekrankheiten
durch die Strahlung lassen sich nicht abwenden.
Interessant ist zu studieren, wie die Bevölkerung auf den Evakuierungsfall
vorbereitet wird. Nimmt man zum Beispiel die Handreichungen des Kernkraftwerks
Krümmel an alle Haushalte im 10-Kilometer-Radius, so stellt sich
sofort die Frage, warum zumindest nach dortiger Angabe Katastrophenschutzpläne
nur für diesen kleinen Radius vorliegen. Bei einem schweren Reaktorunfall
wird vor allen Dingen folgender Konflikt entstehen: Ist es besser, wie
unter anderem empfohlen, sich im Keller aufzuhalten, oder doch sinnvoller
schnellstens das Auto zu nehmen, so man eines hat, und möglichst
hunderte Kilometer weit weg zu fahren? Dabei kann sicherlich das Anschalten
von Fernsehen und Radio Entscheidungshilfe sein, aber auch nur dann,
wenn sofort über die reale Lage wahrheitsgemäß informiert
wird. Unter Umständen ist es sinnvoller, den ersten Schlag mit
radioaktiven Nukliden abzuwarten, als dann gerade im Stau zu stehen.
Schlecht dran sind diejenigen, die kein Auto besitzen und sich an den
angegebenen Sammelpunkten einfinden müssen bzw. ein weißes
Laken heraushängen sollen. Gefragt werden muß auch, warum
nicht staatliche Stellen, diesen Ratgeber herausgeben, sondern der AKW-Betreiber.
Bei einem Atomunfall greift keine der üblichen Versicherungen. In
Hausratsversicherungen u.a. sind solche Schäden ausdrücklich
ausgenommen. Die Versicherungsgesellschaften sind der Meinung, dieses
Risiko ist nicht versicherbar, und sie verweisen auf die Deckungsvorsorge
der betreibenden Energieunternehmen. Es besteht ein Entschädigungsanspruch
nur gegen die Betreiber der Atomanlagen. Da diese nach wie vor extrem
unterversichert sind, wird man von dieser Seite kaum auf nennenswerte
Zahlungen rechnen dürfen. Das verursachende Unternehmen wird in
Konkurs gehen. Neben den extrem hohen gesundheitlichen Risiken werden
die Bürger und Bürgerinnen also auch für die materiellen
Schäden aufkommen müssen. Auf den Staat zu hoffen, dürfte
ebenso unrealistisch sein. Kommt es zu einem größten anzunehmenden
Unfall in einem Atomkraftwerk, dann werden unzählig viele Menschen
in Notunterkünften für lange Zeit leben müssen. Die Arbeitslosigkeit
steigt rasant an und damit auch die weiteren finanziellen Lasten, die
im Land geschultert werden müssen.
Wenn in den geheimen sowjetischen Dokumenten zum Atomunfall zu lesen
ist, radioaktiv verstrahltes Fleisch soll in Fleischfabriken im Baltikum,
Kasachstan, den transkaukasischen Republiken, Moldawien und Mittelasien
außer in Moskau zu je einem Zehntel normalem Fleisch beigemengt
werden , so mag man dies auf den ersten Blick für eine Ausgeburt
des damaligen Systems halten. Käme es aber zu einem „Super-GAU“ in
Deutschland, so wäre mindestens das halbe Land radioaktiv kontaminiert.
Unvermeidlich werden verseuchte Produkte im Einkaufswagen landen. Es
ist völlig unmöglich, von einem auf den anderen Tag eine auswärtige
Belieferung sicherzustellen. Lebensmittelskandale würden wohl unvermeidlich
reihenweise stattfinden. Sämtliche Lebensmittelfabriken in den kontaminierten
Bundesländern stünden mehr oder weniger vor dem Aus. Bestreiten
wir unsere Nahrungsversorgung zu einem erheblichen Anteil aus europäischen
Nachbarländern, steigen die Lebensmittelpreise enorm an. Das dürfte
dann wieder den Absatz kontaminierter Nahrung fördern. Nach wie
vor wird in verstrahlten Gebieten Weißrußlands, der Ukraine
und Rußlands über die Nahrungsmittel am meisten Radioaktivität
aufgenommen. Nachgeprüft werden die Lebensmittel in den belasteten
Gebieten nicht systematisch. So berichtet ein Kolchoschef einer Gemeinde
aus der Region Gomel, seine Mich wird auch an Betriebe, die Nahrungsmittel
für Babys herstellen, geliefert, obwohl der Boden erheblich kontaminiert
ist. In der Milch finden sich die Radionuklide besonders konzentriert.
Wie aus einem sowjetischen geheimen Regierungsprotokoll zu ersehen ist,
erreichte man mit der komplexen Dekontamination den besten Effekt bei
der Verringerung radioaktiver Belastung. Dabei wird die Bodenoberschicht
vollständig abgetragen, einzelne Stellen werden asphaltiert. Bis
zum Oktober 1986 wurden laut Protokoll in den Gebieten Gomel, Mogiljow,
Kiew und Shitomir ca. sieben Millionen Qua-dratmeter Boden abgetragen.
208.000 Kubikmeter Erde lud man auf provisorisch eingerichteten Deponien
ab. Bei einem deutschen Unfall würden ebenfalls große Gebiete
von kontaminierten Böden abgetragen werden müssen, aber eher
wohl mehr, weil man vielleicht genauer messen wird wie in der einstigen
UdSSR und der radioaktive Fallout weniger weiträumig verteilt wird.
Greenpeace schätzt, ungefähr 800 Abfallhalden wurden während
der ersten Aufräumarbeiten angelegt. Rund eine Million Kubikmeter
radioaktives Material vergrub man oberflächennah, ohne weitere Schutzmaßnahmen.
Diese Halden bedrohen das Trinkwasser. Radioaktive Stoffe können
so in die Nahrungsmittelkette gelangen.
Für die Aufräumarbeiten nach dem Reaktorunglück wurden
ungefähr 800.000 Menschen herangezogen. Hier wird das menschliche
Drama besonders deutlich. Bezieht man die Erfahrungen und das Wissen
der Liquidatorenverbände mit ein, so muß man davon ausgehen,
daß bereits bis zur Jahrtausendwende rund 50.000 von ihnen gestorben
sind. Eingerechnet ist dabei die sehr hohe Selbstmordrate. Nach russischen
Angaben sind viele Liquidatoren Invaliden, leiden an Herz-Kreislauf-Problemen,
Lungenkrebs, Leukämie und Entzündungen des Magen-Darm-Bereichs.
Bei vielen Menschen wurde das Knochenmark schwer geschädigt. Weiße
und rote Blutkörperchen und Blutplättchen bilden sich nur in
gestörter Weise. Infektionskrankheiten, Entzündungen und schlechte
Wundheilung weisen auf den Zusammenbuch der körpereigenen Abwehr
hin. Das sind die Folgen einer durch die Strahlung verursachten Immunschwäche.
Jurij Stscherbak prägte dafür den Begriff „Tschernobyl-Aids“.
Wladimir M. Tschernousenko nutzt ihn in seinem 1992 in Deutschland erschienenen
Buch ebenfalls.
Es tauchten Krankheitsbilder auf wie Sehstörungen, Schilddrüsenvergrößerung,
Schilddrüsenunterfunktion, schwere nicht beherrschbare Infektionskrankheiten,
Tuberkulose, Haut- und Schleimhautentzündungen, Allergien, Nasenbluten,
Schwindel, rasche Ermüdbarkeit, Blutarmut, Leukämien, Hautkrebs,
Schilddrüsenkrebs. Weiter treten Gelenkschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten,
Entzündungen der Atemwege und Verminderung der Fortpflanzungsfähigkeit
auf. Genaue Angaben über die Verbreitung der Leiden fehlen häufig,
weil sie nicht systematisch erfaßt werden. Die Schwächung
des Immunsystems bereitet weiterhin auch viralen Formen von B- und C-Hepatitis
den Boden in strahlenbelasteten Regionen. Festgestellt wurde von Galina
Bandaschewskaja, Leiterin der Herzabteilung in der Kinderklinik in Gomel,
Anfang der 90er Jahre eine Häufung von schweren Herzrhythmusstörungen
bei Kindern. Eine Auswertung des Klinikarchivs und weitergehende Recherchen
ergaben, etwa eine Vervierfachung dieses Befundes war seit 1986 festzustellen.
In Grodno, einer Stadt an der polnischen Grenze in Belarus, zählen
diese Krankheitserscheinungen zur absoluten Ausnahme. In den Jahren nach
dem sowjetischen Reaktorunfall von 1986 zeigte sich, daß Schilddrüsenkrebs
bis zu 200-fach häufiger aufgetreten ist bei Kindern und Jugendlichen
gegenüber dem Stand vor dem Unfall. Auch Erwachsene in Altersstufen
erkranken sechsfach häufiger.
Die Häufigkeit von angeborenen Mißbildungen steigt kontinuierlich
an. Zwar versucht man solche im Mutterleib zu erkennen und darauf zu
reagieren. Dennoch kommen sie vor. Viele Föten sterben auch im Frühstadium
der Schwangerschaft. So gehen die Geburtenzahlen zurück und viele
Paare bleiben kinderlos. Die Mißbildungsraten liegen in stark
kontaminierten Gegenden rund 83 Prozent über dem statistischen
Mittel, in vermeidlich „sauberen Zonen“ um 24 Prozent darüber.
Auch viele Tiere sind von den Mißbildungen betroffen, besonders
bei Augen und Extremitäten. So wurden drei Jahre nach der Kernschmelze
im Reaktor im Bezirk Naroditschi 119 Ferkel und 37 Kälber mit Mißbildungen
geboren. Es fehlen die Gliedmaßen, Augen, Rippen oder Ohren. Deformierte
Schädel treten auf. Auf einem Hof wurde ein Fohlen mit acht Beinen
geboren.
Wie schwer der Einschnitt der Reaktorkatastrophe ist, zeigt sich besonders
kraß bei der durchschnittlichen Lebenserwartung der Männer
in Belarus. Vor dem Unglück betrug sie 72 Jahre und sank inzwischen
auf 55 Jahre ab. Hier spielt sicher mit hinein der fortgesetzte ökonomisch
rasante Niedergang des Staates nach der Auflösung der Sowjetunion
und der hohe Alkoholkonsum. Beide Faktoren sind aber wiederum auch mit
gebunden an die Folgen des Unglücks. Überall ist die psychische
Gesundheit vieler Menschen angegriffen, vermehrt treten Neurosen und ähnliche
seelische Störungen auf.
Eine Mutter berichtet in ihrem Tagebuch über ihre Beobachtungen
an einer Schule, wie sich die Kinder veränderten: Sie sind gegen
alles gleichgültig, lassen sich nicht erfreuen oder begeistern.
Sie gähnen, sind schläfrig, müde und reizbar. Ihnen fehlt
der Appetit. Es fehlt der Schalk in ihren Augen, jetzt sind sie nur noch
matt. Die Gesichtsfarbe der Kinder ist blaß, gelb und grau. Beim
Fahnenappell verlieren Kinder mitunter nach 10 bis 20 Minuten das Bewußtsein.
Geklagt wird über Augenschmerzen, Brennen und Kratzen im Hals, Trockenheit
im Mund, Schwindelgefühle und quälende Schmerzen in Arm- und
besonders den Beingelenken.
Vor Tschernobyl waren rund 85 Prozent der weißrussischen Kinder
gesund. Inzwischen ist nur noch jedes zehnte Kind völlig gesund.
Vor 1986 hatte die damalige Sowjetrepublik ein Bevölkerungswachstum,
jetzt verringert sich in Belarus die Bevölkerung jährlich um
50.000 bis 70.000 Menschen. Wladimir M. Tschernousenko berichtet über
seine Aufenthalte in den stark verstrahlten Regionen 1986, unter anderem
Gomel und Mogiljow, immer wieder standen Krankenwagen auf den Schulgeländen.
Kinder waren so schwach, daß sie mitten im Unterricht ohnmächtig
wurden. Selbst leichteste Infektionen bereiteten große Schwierigkeiten,
eine Erholung erfolgte nur langsam. Die Kinder litten u.a. auch an Mandel-entzündungen,
Bronchitis und ungewöhnlich langwierigen Lungenentzündungen.
Im Gebiet Gomel, die Stadt selbst liegt etwa 130 Kilometer in nördlicher
Richtung vom Reaktor entfernt, stieg bis 2000 der Nierenkrebs um das
5fache, bei Frauen um das 3,7fache. Für Mastdarmkrebs liegen die
Werte für Männer bei einer Steigerung um das 2,1fache, für
Frauen um das 1,5fache. Bei Schildrüsenkrebs steigerten sich die
Erkrankungen für Männer um das 5fache, für Frauen um das
10fache. Eine weitere Folge des Atomunglücks ist die Zunahme von
Jugenddiabetes. Im Gebiet Gomel ist eine Verdreifachung dieser Befunde
gegenüber vor 1986 zu verzeichnen. In kontaminierten Gebieten nahmen
nach dem Unglück die Krebserkrankungen des Mundes zu. Viele hatten
gegessen, was sie angebaut hatten, aber alles war verstrahlt.
Radioaktive Strahlung kann selbst in tödlicher Dosis nicht vom Menschen
registriert werden. Bei niedriger Dosierung treten die Schäden
erst nach vielen Jahren auf. Bestenfalls ein metallischer Geschmack im
Mund weist auf extrem hohe Dosen hin. Selbst wenn man mit Stiefeln auf
Reaktorauswurf tritt, so bemerkt man die Verbrennungen erst am nächsten
Tag, erwähnt Tschernousenko in seinem Buch.
Jelena Burlakowa weist darauf hin, es gibt keine ungefährliche Dosis.
Durch den Tschernobylunfall zeigt sich das ganz deutlich. Ursache ist,
es gibt im Körper ein Reparatursystem, das ab etwa 300 Röntgen
wirksam wird. Viele geschädigte Zellen werden ersetzt. Bei Dosen
von 50 bis 100 Röntgen beginnt der Körper Zellgrenzschichten
zu erneuern. Bis zu 90 Prozent der Schäden werden behoben. Jedoch
bei niedrigeren Dosen funktionieren die körpereigenen Reparatursysteme
nicht. So kommt es zu dem häufigem Befund in den verstrahlten Regionen,
daß sich bei niedrigen Dosen bereits der Gesundheitszustand erheblich
verschlechtert.
Im Exekutivkomitee von Mogiljow wurden die folgenden Berechnungen angestellt,
weiß der belorussische Schriftsteller Wassil Jakowenko zu berichten:
Man fand heraus, es würde zweieinhalbfach teurer, wenn man die Menschen
in verstrahlten Gebieten beläßt und sie mit dem nötigsten
versorgt, Sonderzulagen zahlt. Es ist nicht nur gesundheitlich zu raten,
sie umzusiedeln, sondern auch ökonomisch geboten. Bezugszeitraum
war die Halbwertzeit von Cäsium-137, also 28 Jahre. Bei einem schweren
Reaktorunfall in Deutschland könnten sich ähnliche Relationen
einstellen, trotz unterschiedlicher Wertmaßstäbe für
die verschiedenen Dienstleistungen und Produkte. Also halb Deutschland
umsiedeln, teils in eigene geringer belastete Gebiete, aber wohl auch
ins Ausland. Zumindest ganze Bundesländer würden als Wohnstatt
ausfallen. Wie prekär die Lage nach einem Unfall wird, zeigt der
Fall Weißrußland ganz besonders. Auch nach der Jahrtausendwende
leben auf verstrahlten Gebieten immer noch zwei Millionen Menschen,
darunter 500.000 Kinder.
Eine besonders spannende Frage dürfte bei einem deutschen Reaktorunglück
werden, wer denn eigentlich für die Aufräumarbeiten bei einem
Super-GAU in Biblis, Krümmel oder Neckarwestheim zwangsweise rekrutiert
werden wird. Da ist in der ersten Phase wichtig, daß nicht alles
radioaktive Material den Reaktor verläßt, sondern von einem
Sarkophag wenigstens notdürftig umschlossen wird. Wie weit sind
weitere Aufräumarbeiten notwendig oder gefährden nur unzählige
Menschenleben? Ist es nicht besser, diesen Teil Deutschlands dann aufzugeben
und besser ins Exil nach Polen, Frankreich oder Italien zu gehen? Wer
wird sich freiwillig für die Sünden von Atomindustrie und Regierung „verheizen“ lassen?
Als deutsche Liquidatoren kann man eigentlich nur uninformierte Leute
gewinnen. Oder wird man solche Aufträge an billige ausländische
Arbeitskräfte vergeben? Alles sehr spannende Fragen, um noch mal
zu zeigen, wie existentiell ein schwerer Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk
wäre und daß Deutschland in seiner bisherigen Form aufhören
würde zu existieren. Gerade die gründliche Beweisaufnahme des
Tschernobylunglücks kann helfen zu zeigen, die Einschnitte sind
so gravierend, daß sie die freiheitlich demokratische Grundordnung
unseres Landes existentiell in den materiellen Lebensbedingungen in Frage
stellt.
Bei all den angeführten Zahlen und Fakten sollte man dahinter die
wirklichen menschlichen Schicksale nicht vergessen, das Leiden, den ungeheuren
Verlust an Lebensperspektive. Swetlana Alexijewitsch zeigt in ihrem Interviewband „Tschernobyl“,
das ist wie eine immer andauernde Tragödie. Der Band könnte
auch als Warnung dienen, worauf wir uns einstellen müssen, wenn
es in einem deutschen AKW zu einem schweren Unfall kommt. Nicht umsonst
heißt der Untertitel: „Eine Chronik der Zukunft“. All
das ist Kernbestandteil der nach wie ungelösten Probleme des deutschen
Atomausstiegs, der entsprechend den wirtschaftlichen Erwägungen
der AKW-Betreiber ausgerichtet und aufgeschoben wurde.
Aus den Interviews, die die Autorin aufgezeichnet hat, geht hervor: Überall
werden Familienangehörige krank oder es ist der Berichtende krank
geworden. Besonders niederschmetternd sind die Interviews mit verschiedenen
Kindern. So erzählt ein Junge, wie er den Erwachsenen abgelauscht
hat, daß er eigentlich gar nicht auf der Welt sein sollte. Er wurde
im Unglücksjahr geboren, die Mutter flüchtete aus dem Krankenhaus.
Er ist das einzige Kind im Dorf aus diesem Jahr. Er berichtet darüber,
wie das Elternhaus eingeebnet wurde. Der Vater hat es ihm berichtet.
Eine fünf Meter tiefe Grube wurde ausgehoben, daß Haus abgesprüht
von der Feuerwehr, damit kein radioaktiver Staub aufgewirbelt wird. Ein
Kran hebt und drückt das Haus in die Grube. Viel Hausrat liegt herum
dann. Ein Bagger schiebt alles in die Grube, darüber wird Sand und
Lehm geschüttet und alles planiert. Haus für Haus – bis
das Dorf verschwunden ist. Gerne, so der Junge, hätte er noch seine
Briefmarkenalben u.a. mitgenommen. Das Buch kann eine hilfreiche Lektüre
sein, um noch besser verstehen zu können, was uns bei einem deutschen
Reaktorunfall erwartet, und warum ein Sofortausstieg aus der Atomenergie
höchst geboten ist.
(aus meiner Diplomarbeit, Inhaltsverzeichnis auf der Anti-Atom-Seite)
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