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Zur Kritik des Dogmas vom totalen Markt
Die Schattenseiten der Globalisierung aus dem Blickwinkel der politischen
Kulturkritik Carl Amerys. Notizen zu seinem neuen Buch "Global Exit"
Marko Ferst
Als Autor reicht Carl Amery weit über das Etikett eines Globalisierungskritikers
hinaus. In seinem neuen Buch "Global Exit" gerät die gesamte
Kulturentwicklung des Menschen auf den Prüfstand, die demokratische
Einbettung ebenso wie die ökologische Tragekapazität, die Frage
nach der erneuerten kriegerischen Logik. All dies behandelt er unter dem
zentralen Brennpunkt globalisierter Wettrenn-Gesellschaften.
Konnte im östlichen Lager von Gorbatschow vor der 89er Wendezeit
noch von einem "neuen Bewußtsein" gesprochen werden, das
nötig sei für eine emanzipatorische Entwicklung des Weltgeschehens,
wie diffus das auch immer verortet war, so wird späterhin deutlich:
Der neue Mensch hat sich der Verherrlichung des totalen Marktes unterzuordnen,
so Amery. Freilich ist die individuelle Verarbeitung solcher sich verändernden
Lebenswelten verschieden, doch den vom Autor skizzierten Menschen, der
immer bereit ist zur sublimsten und allerhöchsten Dienstbereitschaft,
wird man auf jeder beruflichen Qualifikationsstufe finden. Die sozialen
Freiräume zum Ausscheren geraten immer enger, gleichwohl werden sie
auch zu wenig neu besetzt. Sehr wahrscheinlich sind nicht wenige Menschen
sozialpsychologisch gesehen schon zu sehr in jenen Denkstrukturen, die
der totale Markt begünstigt, verfangen.
Der heutige Arbeitnehmer hat flexibel zu sein und soll jedes private Interesse
nach Selbstverwirklichung, persönlicher Würde, die eigene Familie,
demokratisches Engagement hinten anstellen, so dies hinderlich ist für
den selbstlosen Einsatz in der Firma, für die er gerade arbeitet,
führt der Autor aus. Kann der Arbeitnehmer aufsteigen in die nächstbessere
Kategorie von abhängiger Lohneinkunft oder Scheinselbständigkeit,
steht der Arbeitgeber gleichermaßen zur Disposition, doch das dürfte
meiner Meinung nach eher die Option einer kleinen Minderheit sein.
Die Ausbreitung des Marketing-Charakters als immer stärkere sozialpsychologische
Realität im Menschen wird durch die Anforderungen marktkonformer
Lebensweise massiv verstärkt. Dieses Ich-bin-so-wie-ihr-mich-braucht
zerstört die geistig-seelische Integrität der Gesellschaft,
und zwar auf subtilere Weise, als dies über den Bevölkerungsschnitt
gesehen im späten Pseudosozialismus möglich war. Zwar kann die
subtile Anpassung in den östlichen Verhältnissen, denke ich,
nur unterschätzt werden, aber die Widerstände gegen diese Fremdbestimmung
hatten sehr viel mehr Massenbasis als der heutige Protest gegen die Auswüchse
weltumspannender Plutokratie.
Nach demokratisch-kapitalistischer Doktrin sollte die Marktwirtschaft
gesteuert und beschränkt werden durch die Politik und die Kräfte
der Zivilgesellschaft, schreibt Amery. Diese Bedingung läßt
sich immer weniger erfüllen, auch wenn sie idealtypisch noch nie
eingelöst wurde. Doch indem der totale Markt über seine ökonomische
Machtakkumulation die Fundamente emanzipatorischer Gesellschaftsgestaltung
unterminiert und zerstört, sprengt er auch jegliche zivilisatorisch-demokratische
Ordnung.
Amery sieht den Kapitalismus als Parasiten des Christentums, der sich
durch die Jahrhunderte hinweg immer erfolgreicher, oft genug durch religiöse
Verkleidung getarnt, an allen Barrieren vorbei zu einer eigenen Reichsreligion
entwickeln konnte. Zwar würde dies nicht ganz den strikten religionswissenschaftlichen
Kategorien entsprechen und bringt sicher Einsprüche von säkularisierter
wie religionsinteressierter Seite auf. Er verweist in diesem Kontext jedoch
auf Walter Benjamins Auffassung, der Ähnliches schon viel früher
festgestellt hatte. Die kapitalistische Religion funktioniere als Kult
ohne Dogma. Anfügen könnte man auch Erich Fromms Interpretation,
der in seinem Buch "Haben oder Sein" von einer Religion des
Industriezeitalters spricht. Heilig seien darin die Arbeit, das Eigentum,
der Profit und die Macht. Die Auflösung der Bande menschlicher Solidarität
durch die Vorherrschaft des Eigennutzes und des gegenseitigen Antagonismus
seien Charakteristika eines neuen Gesellschaftscharakters, auf den sich
diese geheime Religion, die sich hinter der christlichen Fassade entwickeln
konnte, stützen könne (1).
Der Glaube an den totalen Markt ist nicht nur von wirtschaftlichen Interessen
konstituiert, er ist nicht nur ein fundamentalistisches System mit seinen
eigenen Zeremonien. Amery sieht ihn in der hochpolitischen Funktion einer
Reichsreligion nach Art des Imperium Romanum aufgestiegen, also einer
heidnischen Religion wie sie vor der konstantinischen Wende von 312 herrschte.
Man durfte unzähligen Göttern huldigen, aber gültig war
und blieb, der Kaiserkult und dies galt als alternativlos.
Das Dogma globalisierter Marktmacht heißt: Alles hat seinen Preis,
um gekauft zu werden. Wo der Preis noch fehlt, wird er festgestellt und
verordnet. Mit diesem Herangehen wird der fundamentalistische Charakter
dieser Art von religiöser Wirtschaftsordnung offenbar. Sie toleriert
nichts anderes neben sich, gleicht darin dem angesprochenen Kaiserkult
und kolonisiert den gesamten Lebensprozeß bis tief in die menschlichen
Seelenstrukturen hinein. In seinem 1994 erschienen Buch "Die Botschaft
des Jahrtausends" spricht Carl Amery davon, unsere derzeitig herrschende
Wirtschaftsreligion sei im Grunde ein System der Entrückung, ein
geschlossenes System ohne wesentliche Berücksichtigung der Lebenswelt.
Die Volkswirtschaftslehre werde unterrichtet wie eine Frohbotschaft. Hermann
Scheer kombiniert die wirtschaftliche und politische Sphäre stärker
und spricht von einer Selbstideologisierung des westlichen Systems. Es
sei von sich selbst besessen, darin liege seine fundamentalistische Anlage.
Es gehe um eine gezielte Ausdehnung der Einflußnahmen und Ausweitung
seiner Operationsräume (2).
Was die heutige Heilslehre über die Segnungen globalisierter Marktmacht
radikal vom römischen Kaiserkult unterscheide, sei die ungeheure
Wirkmacht, führt Amery aus. Die Einschlagtiefe der heutigen Megamaschine
in die biosphärischen Gleichgewichte stelle eine regelrechte Todesspirale
dar. Der totale Markt sei die gesellschaftliche Ausformung eines Bierhefeprogramms.
Die Crux dabei ist: weil der materielle Fortschritt so erfolgreich in
dieser Konstellation gedeiht, bricht das Ganze an seinem Erfolg zusammen,
wie eine üppig wuchernde Bierhefekultur. Daß zuvor durch den
Freihandel extreme soziale Schieflagen produziert werden, bleibt ein Binnenproblem
dieses Prozesses. Die Grenzen des Wachstums sind längst überrannt,
und wer Nachhaltigkeit ohne eine Reduzierung unserer Energie- und Stoffverbräuche
erreichen will, der lügt. Notwendig sei eine Schrumpfung unseres
Wirtschaftsvolumens. Als völlig unzureichend bezeichnet Amery auch
die Ökoablaßkrämerei, wo dann in die bisherige unökologische
Industriestruktur ein Stockwerk Umwelttechnologie eingesetzt wird. Reparaturbetrieb
und ein Schrebergarten "Politikfeld Umwelt" seien nicht mehr
hinnehmbare Denkfaulheiten. Gemeint ist, daß die Rahmenbedingungen
für die Existenz unserer Zivilisation ausgeblendet bleiben. Wenn
das Weltklima in einen völlig neuen Zustand gesprungen sei, schwer
überlebensfähig für die Gattung Mensch, dann wäre
das für jedermann offenkundig. Nur dann mit dem gesellschaftlichen
Lernen anzufangen dürfte gründlich zu spät sein. Wir bräuchten
eine solare Energiewende, eine Revolution bei der Effizienz im Gebrauch
unserer Ressourcen und eine Abkehr von Konsumidiotie, also eine kreative,
intelligente Selbstbegrenzung.
Wie ist das nun aber mit dem Widerstand gegen die totale Globalisierung,
deren Widerparte sich in Buchstabeninstitutionen wie: WTO, IWF, GATT etc.
verschanzen? Amery thematisiert die Welle des Unmut und der Revolte, die
immer stärker die Arena öffentlicher Aufmerksamkeit erreicht.
Er schätzt ein, die Dichte des Widerstandes ist nach wie vor zu gering
und die Ziele der Bewegung sind, soweit erkennbar, zu weit auseinanderliegend.
Fehlen würde nach seiner Meinung die Festigkeit der Perspektive.
Der Angriff auf die Religion des totalen Marktes müsse sehr genau
auf ein erkennbares Ziel gerichtet werden. Die Globalisierung sollte in
ihrer weltsozialen Ungerechtigkeit und ökologischen Zerstörungskapazität
als eigene existentielle Bedrohung erkannt und erfühlt werden.
Amery sieht, daß die Kirchen in diesem Jahrhundert zu völliger
Bedeutungslosigkeit herabsinken könnten. Jedoch verfügen sie
über einen eminenten Vorzug. Sie brauchen nicht wie Parteien der
Demoskopie hinterherzuhecheln oder werden von Aktionären und Pensionsfonds
über die Quartalsbilanzen geprüft. Sie hätten die Freiheit,
die Konfrontation mit dem herrschenden Mammon zu wagen. Das Herangehen
des Autors läßt aber auch darauf schließen, er sucht
zunächst mal eine Adresse, die er ansprechen kann. Gemeint ist am
Ende schon jeder der mit wachem Auge diese Prozesse verfolgt.
Recht sparsame Auskünfte erteilt die politische Streitschrift unter
dem Gesichtspunkt, wie könnte denn alternative Gesellschaft gestaltet
sein? Ich bezweifle, daß man dies immer wieder in die Zukunft hinein
vertagen kann. Schmidt-Bleek dürfte von der Dimension her richtig
liegen, wenn er eine Dematerialisierung unserer Industriegrundlast um
den Faktor Zehn hierzulande für notwendig hält, blanke Ketzerei
also für eine Politik und Wirtschaftswelt, die permanent auf ökonomische
Zuwachsraten stiert. Das würde natürlich Konsequenzen gravierendster
Art für die materiell-technische Infrastruktur und die sozialen Strukturen
unserer heutigen Lebenswelt haben.
Einige Hinweise gibt der Autor aber schon: Die globalen Finanzspiele sind
auch gespeist aus unseren eignen Spareinlagen, Aktien, Fonds und Renten.
In jedem Fall sind sie Teil der Mammonmacht, und wir sollten unsere Verantwortung
dafür wahrnehmen. Wird damit gerade das nächste Stück Regenwald
abgeholzt, von überbezahlten Wissenschaftlern die viereckige Tomate
erschaffen oder das nächste klimaschädliche Kohlekraftwerk errichtet?
Ein wichtiger Entscheidungspunkt ist auch der Erbgang. Jedes Jahr werden
riesige Summen auf die Nachkommen übertragen. Eigentlich soll es
der nächsten Generation davon (in aller Regel jedenfalls) besser
gehen. Doch dieser Sinn wird in sein Gegenteil verkehrt, und man zerstört
in raschester Folge das biosphärische Erbe mit diesem Angesparten.
Das ausbeuterische Treiben der Renditewirtschaft sollte besser mit einer
kommunitären Initiative konfrontiert werden, in Form von alternativen
Stiftungen, mit denen regenerative Energien gefördert würden,
eine kindgerechtere Pädagogik und anderes mehr. Kreditsysteme mit
Niedrigzinsen könnten ökologisch wirtschaftenden Kooperativen
unter die Arme greifen.
Carl Amery, Jahrgang 1922, Studium der Sprachen und Literaturwissenschaft,
Mitglied der Gruppe 47, von 1989 bis 1991 Präsident des P.E.N.-Club
der Bundesrepublik Deutschland, zuletzt erschienene Bücher:
Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod und Würde, 1994
Hitler als Vorläufer. Auschwitz der Beginn des 21.Jahrhunderts, 1998
Klimawechsel. Von der fossilen zur solaren Kultur, 2001 (zusammen mit
Hermann Scheer)
Global Exit. Die Kirchen und der totale Markt, 2002
(1) Erich Fromm; Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen
einer neuen Gesellschaft, München, 1991, S.141
(2)Hermann Scheer; Zurück zur Politik. Die archimedische Wende gegen
den Zerfall der Demokratie, München, 1995, S.31, 34
Global
Exit. Die Kirchen und der Totale Markt
Luchterhand Literaturverlag. 239 Seiten, gebunden, 8,50 EUR.
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