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Von der schwierigen Suche nach
Heilmethoden bei Schmerzkrankheiten
Kleine Nervenfasern sind bei Fibromyalgie geschädigt
Von Marko Ferst
Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) gilt als schwere chronische, bisher nicht
heilbare Erkrankung. Schmerzen in mehreren Körperregionen mit wechselnder
Lokalisation in der Muskulatur, um die Gelenke und Rückenschmerzen
treten auf. Sehr schnelle Erschöpfung, hohe Stressintoleranz, starke
Reduktion körperlicher Belastbarkeit, Hitze- oder Kälteunverträglichkeit,
chronischer Kopfschmerz kann sich manifestieren, nicht selten mit verschlimmernder
Tendenz oder phasenweisen Höhepunkten. Allergien, Schlaf- und Konzentrationsstörungen,
Hörempfindlichkeit, Schwindel u.a. gehört dazu. Starke Stimmungsschwankungen
kommen vor oder eine Schmerzhaube über dem Kopf bildet sich heraus.
Dinge, die man in jedem Fall erinnern müßte, werden vergessen.
Bisher wurden über 140 verschiedene Symptome dieser Krankheit beschrieben.
Die Anzahl und Zusammensetzung beim einzelnen Patienten variiert, aber
ein Set von 20-30 tritt zumeist auf. Die Problemlagen können sich
gegenseitig aufschaukeln und Fibromyalgieschübe entfachen. Das FMS
gilt als schwer zu diagnostizierendes „Chamäleon unter den
Krankheiten“, da es Symptome und Warnzeichen von vielen anderen
Gesundheitsstörungen nachahmen kann. Organe wie Leber, Schilddrüse,
Niere und Hypothalamus geraten in ihrem verflochtenen Wechselspiel aus
dem Takt.
Das FMS kann mit keinerlei Messungen, sondern nur durch Ausschluss anderer
Diagnosen festgestellt werden. So vergehen oft viele Jahre bis die Krankheit,
wenn überhaupt, ermittelt wird. Selbst Schmerzpunkte, von denen
früher mindestens elf als druckschmerzhaft gelten mußten,
werden heute als Diagnosekriterium, laut den medizinischen Leitlinien,
nicht mehr angewandt. Die Auslöser der Krankheit sind unbekannt,
außer bei der sekundären Form, wo z.B. orthopädische
Schäden vorausgehen.
Um so interessanter ist jede Studie, die mehr Licht in die Funktionsweise
dieser mysteriösen Krankheit bringt. So gelang es einem Forscherteam
um Nurcan Üçeyler und Claudia Sommer am Universitätsklinikum
Würzburg Schäden an kleinkalibrigen, schmerzleitenden Nervenfasern
nachzuweisen. Auf diese Fasern konzentrierte man sich bei der Suche nach
Auslösern der typischen Schmerzen bei Fibromyalgie. 25 FMS-Patienten
wurden klinisch-neurologisch und mittels spezieller Nervenleitungsstudien
untersucht.
Drei Testverfahren nutzen die Forscher für die Studie. Thermische
Wahrnehmungs- und Schmerzschwellen der kleinen Nervenfasern wurden untersucht,
um neuropathische Schmerzen besser zu charakterisieren. Auf Temperaturreize
wurde weniger empfindlich reagiert. Die elektrische Erregbarkeit der
Nervenfasern wurde einbezogen. Schwächere Antworten auf die elektrischen
Impulse stellten die Forscher fest. Ausserdem zeigten Hautproben eine
deutlich reduzierte Anzahl kleinkalibriger Nervenfasern. FMS-Patienten
bilden häufig Depressionen als Folgeerkrankung aus, Suizide kommen
vor. Den Erkrankten standen deshalb zehn Patienten gegenüber, die
an unipolarer Depression litten, aber keine Schmerzen aufwiesen. Sie
zeigten wie gesunde Patienten keine Schädigung der kleinen Nerven.
Diese Erkenntnisse könnten zu völlig neuen Therapieansätzen
in der Zukunft führen.
Bisher werden unterschiedliche Behandlungsansätze kombiniert, die
unter dem Stichwort multimodale Therapie geführt werden. Dazu gehört
das Medikament Amineurin mit oft gutem Nutzen. Entspannungstechniken,
Bewegung in limitiertem Rahmen, Kältekammer und psychologische Hilfe
u.a. kann etwas Linderung erbringen. Bei Reizdarm sollte die Ernährung
umgestellt werden. Der Patient muss sich selbst informieren und ausprobieren,
welche Maßnahmen in seinem Fall sich als hilfreich erweisen.
Während die Würzburger Studie nur Symptome des Krankheit zu
belegen vermag, geht Prof. Johann Bauer, Arzt für Chirurgie und
Innere Medizin einen entscheidenden Schritt weiter. Er sieht Kompressionssyndrome
im feinen Nervensystem als Ansatzpunkt für eine Heilung. Durch seine
hand- und fusschirurigische Operationspraxis fielen ihm im Bereich von
Akupunkturlöchern eiweisshaltige Verklebungen auf. Diese sind Durchtrittsstellen
für feine Nerven, Venen und Arterien. Entfernte man die glasurartige
Substanz und weitete diese Stellen, so reduzierten sich oft die Schmerzen überraschend,
auch in weit entfernten Körperregionen. Innerhalb von einigen Monaten
verdämmern die permanent falschen Signale ans Gehirn.
Aus diesem Ansatz entwickelte er eine Kartographie der Schmerzen, die
auf dem chinesischen Meridiansystem basiert. Die Meridiane funktionieren
wie Fernmeldeketten für elektrische Schmerzimpulse. So lassen sich
die Schmerzbereiche der Fibromyalgie effektiv ordnen und erkennen. Bauer
fand in vier Körperbereichen, auch Quadranten genannt, Konfigurationen
von Akupunkturpunkten, die, wenn dort Verklebungen entfernt wurden, eine
weitgehende Verbesserungen erzielen. Oft genügte die Operation in
einem Quadranten. Diese Schaltstellen befinden sich an beiden Unterarmen
und Innenknöcheln.
Nach seinen Erhebungen von 2003 bis 2008 waren nach einem Jahr über
76,2 % teilweise beschwerdefrei, darunter 42,1 % die weitgehend geheilt
waren. Nur bei 7 % war kein Erfolg zu sehen. Dazu kommen 16,8 %, wo keine
Rückfrage möglich war. Aus dem Gespräch mit geheilten
Patienten kann man erfahren, gerade bei schweren Fällen bedeutet
es eine Rückkehr ins Leben. Auch bei einem teilweisen Erfolg, wird
der Gewinn an Lebensqualität nicht zu unterschätzen sein. Fehlschläge
dürften dagegen kontroverse Debatten befeuern.
In einem Interview geht Bauer sogar soweit, er wäre gerne bereit
Kollegen in der Methode auszubilden, wenn sie von den gesetzlichen Krankenkassen
anerkannt würde. Für die Kassen könnte sich das sogar
rechnen, denn FMS-Patienten verursachen lebenslang durch Psychotherapien,
Kuren, Fehloperationen und ihre vielen Arztbesuche sehr hohe Kosten.
Selbstverständlich wäre es wünschenswert, wenn weitere Ärzte
und Studien, die Befunde bestätigen könnten, wie die medizinischen
Leitlinien von 2012 beanstanden. Gleichzeitig muß man kritisch
hinterfragen, wenn die Leitlinienautoren geprüfte Therapien und
Medikamente dagegen empfehlen, ob deren Linderungen sich nicht in bescheidenem
Rahmen halten.
Probleme bei der Wundheilung gegen die Methode ins Feld zu führen
ist dann schon sehr problematisch, zumal wenn man sieht, wie akkurat
Bauer gerade diesen Aspekt bei seinen Patienten betreut und die Gefahr
von Störfeldern bei Narben beachtet. Ein Grund für solche Dissonanzen
könnte sein, dass üblicherweise Psychiater, Psychologen, Rheumatologen
und Schmerztherapeuten FMS-Erkrankte behandeln, die selten Erfahrungen über
mikrochirurgische Eingriffe verfügen. Wie weit medizinisch-finanzielle
Eigeninteressen eine Rolle spielen könnten, ist schwer abzuschätzen.
Gänzlich ausschließen kann man sie auf allen Seiten nicht.
Die Forschung sollte diese Konfliktlinien unbedingt überwinden.
Die Würzburger Studie und die Operationsergebnisse in der Schweiz
weisen darauf hin, hier wird man weitere wissenschaftliche Funde erheben
können. Bei sekundärer Fibromyalgie, etwa als Folge von Knochenverletzungen,
könnte eine dauerhafte Überlastungssituation durch schmerzleitende
Impulse, die über die Akupunkturpunkte laufen, die eigentliche Ursache
sein. Warum jedoch die primäre FMS entsteht, Frauen sind davon besonders
häufig betroffen, darf freilich noch längst nicht als geklärt
gelten. Chronifizierte Schmerzen, Erschöpfungssyndrom und Fibromyalgie überlappen
sich bei den Symptomen vielfach. Vermutlich würden weitergehende
Forschungen helfen, auch abweichende Schmerzbilder zu behandeln, die
bisher nicht heilbar sind. Bauers Schmerzkartographie in dem Band „Fibromyalgie.
Körper ohne Schmerz“ könnte dafür einer der Zugänge
sein.
Buchpublikation
(Wenn jemand Fragen dazu hat, kann er sich dazu an mich wenden. Ich
habe mich mit der Thematik gründlich beschäftigt)
Kursbuch
Fibromyalgie
Rezension
Von Marko Ferst
Fibromyalgie wird oft erst nach sieben bis zehn Jahren diagnostiziert.
Man kann sie nicht mit medizinischen Meßverfahren aufspüren.
Dr. Thomas Weiss beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit dem
Krankheitsbild und bereitete ein Kompendium für betroffene Patienten
auf. Fibromyalgie ist ein Defekt der Schmerzleitung und -verarbeitung.
Das vegetative Nervensystem und das Hormonsystem sind in Mitleidenschaft
gezogen. Weit verbreitete Schmerzen mit wechselnder Lokalisation in der
Muskulatur, um die Gelenke oder Rückenschmerzen, Druckschmerzempfindlichkeit
treten auf. Allgemeine Müdigkeit und unerklärliche Erschöpfung,
starke Reduktion der körperlichen Belastbarkeit, Streßempfindlichkeit,
chronischer Kopfschmerz, Allergien, Schlaf- und Konzentrationsstörungen,
Hörempfindlichkeit u.v.a. kann sich manifestieren. Bisher sind über
140 verschiedene Symptome beschrieben.
Die Krankheit gilt als nicht heilbar, man kann aber versuchen, die schlimmsten
Auswirkungen mit multimodaler Therapie in Schach zu halten. So erweist
sich Amineurin oft als hilfreiches Medikament. Angepaßte körperliche
Aktivität hebt die Reizschwelle. Umgang mit Ernährung und
Schlaf werden ausgeführt. Kältetherapie oder psychotherapeutische
Unterstützung kann helfen. Zur Wahrheit gehört: Wunder sind
nicht zu erwarten. Allerdings gibt es operative Eingriffe, bei denen
an ausgewählten Akupunkturpunkten Eiweißverklebungen entfernt
werden. Angesichts von Teilerfolgen ist bedauerlich, daß dies nicht
gründlicher erforscht wird.
Thomas Weiss: Kursbuch Fibromyalgie. Das Standardwerk zur Fibromyalgie,
chronischen Schmerzerkrankungen und funktionellen Störungen, Südwest-Verlag,
256 Seiten, 19,99 €
2.1.2014, erschienen in der Tageszeitung nd
www.umweltdebatte.de
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