Marko Ferst

 

89er Wende. Abgelegte Chancen

 

Unzählige Menschen mit Transparenten
rücken die Macht um
jene die ins andere Deutschland gehen
hinterlassen ihren Druck
Panzer bleiben in Kasernen
die Menschen auf den Plätzen der Republik
neue Farben und Gesichter
wie Fenster
zwischen Buchstabenschwere
Zeitungszeilen aufgestoßen
die Zwischenräume dürfen nun selbst
zur Sprache kommen
gewonnener Mut setzt sich
über bisher gültige Ewigkeiten hinweg
der bleierne Mantel
weicht ungeklärten Maßen

Dann fällt die Mauer
und immer mehr fällt mit
zur Wahl steht nicht mehr
ein besseres System
nur noch Parteien
gehen auf Stimmenfang
wo das Alte erst halb abgetreten ist
steht die neue Unfreiheit
schon längst bei Fuß
die Stasi ist kaum demontiert
da werden Verträge aufgesetzt
wie nun der Westen
bis an die Oder reichen soll

Der Wohlstand mit der starken Mark
hat es vielen Menschen angetan
so weiß man sich im reichen Teil
in optimaler Übermacht
und plant alles
nach den eigenen Werten
gelernt hat man im Osten
das Mitmachen
darin war man gut
und konnte es
nun noch viel besser
und das gelegentliche Meckern
gehörte mit zu dem Geschäft
doch das schien vorübergehend
nur noch Nebensache

Mit der neuen Mark
schließt nun ein Werk
nach dem nächsten
viele blieben auf der Strecke
Wildost verbreitet sich
am Arbeitsplatz
auf geht die Saat
als neue Angst
für die Ungläubigen
sind Sicherheitsapparate
nun nicht mehr nötig
aber nicht wenige
fühlen sich auch besser
kein Schlange stehen mehr
im Delikatladen
fast alles ist zu haben
doch wie weit reicht das?

Die verpaßte Chance
ist nicht zurückzuholen
zu wenige suchten nach ihr
wo lag sie überhaupt?
sie wurde vertan
weil man nicht wußte
nach welchem System
man hätte suchen können
doch die Schattenseiten
leben weiter
sie sind nicht aufzuhalten
und im nächsten Umbruch
führen sie das Regiment
was wir nicht selbst
in die Hand nehmen
und beginnen
in uns anzufangen

Der Vorteil
den der Anschluß bot
liegt nach wie vor
in hohem Kurs
doch längst sind limitiert die Güter
kaum sichtbar zwar
doch es bahnt sich an
es gilt nur noch befristet
die Freiheit
die man sich nahm
mit aufgetürmtem Reichtum
die Zukunft abgegriffen
wie bei feigem Straßenraub
kehrt auch erneut
das Totalitäre
uns ins Gesicht
die Segel sind längst gestrichen
so läßt sich
nicht mehr wenden


2001, aus dem Gedichtband "Umstellt. Sich umstellen"


 

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