Von der Tragödie am Aralsee

Abdishamil Nurpeissows Roman berichtet vom Schicksal seines Volkes

Marko Ferst

 

Einst liefen die Boote der Schiffer Tag und Nacht mit ihren Trawlern aus, um frischen Fang mit ihren Netzen im Aralsee einzuholen. Der See galt als Anlaufpunkt für Kurgäste und Ferienlager beherbergten unzählige Kinder. Der Autor und kasachische PEN-Prädident Abdishamil Nurpeis-sow, geboren am Aralsee, stammt aus einer Fischerfamilie. Doch seit den 60er Jahren schwindet der See unaufhörlich. Meter um Meter sinkt der Wasserspiegel, legt Fischerboote auf trockenen Grund. Heute sind vom einst viertgrößten See der Welt nur noch zwei kleine Salzlachen übrig. Die beiden Zuflüsse Amudaria und Syrdaria liefern an ihrem Lauf Wasser für Baumwollplantagen und speisen ihn nicht mehr.
Nurpeissow beeindruckt durch seine lebendigen und authentischen Romanfiguren. Ja, so dürfte es den Fischern am Aralsee ergangen sein, als die Fänge immer häufiger ausblieben. Jadiger als Vorsitzender einer Fischereigenossenschaft riskiert alles, um seinen Leuten noch einen guten Fang zu verschaffen. Risikoreich überquert er mit seinem LKW das noch frische Eis des Flusses, damit sie den Fischen folgen können. Er fährt nicht zur Familie zurück, sondern hilft vor Ort. Wochenlang kommt er nicht nach Hause und zieht sich damit den Unwillen seiner Frau Bakizat zu. Es kommt zum Streit zwischen Ihnen und seine Frau verläßt ihn für Azim, einem Jugend-freund aus gemeinsamen Studienzeiten.
Eben jener ist Institutdirektor geworden und verkündet, wenn der See ausgetrocknet ist, könnte man reiche landwirtschaftliche Ernte auf seinem Grund einfahren. Über nicht vorhandene große Grundwasserreserven wird phantasiert. Azim ist hoch angesehen in der Nomenklatur und sorgt dafür, daß Kritiker seiner Pläne an den Rand gedrängt werden. Später verliert er jedoch seinen Posten und die damit verbundenen Privilegien.
Nurpeissow zeigt erbarmungslos die organisierte Verantwortungslosigkeit, wie eine sinnvolle wissenschaftliche Bestandsaufnahme durch Karrieristen unterlaufen wird. Das durch die Steppe wehende Salz des fast ausgetrockneten Sees zerstört vielerorts die Gesundheit und schmälert auf große Distanzen landwirtschaftliche Erträge. All dies bleibt in Azims Institut ausgeblendet. Die-ses ökologische Desaster in Mittelasien erscheint dem Autor wie ein Vorspiel der großen Kata-strophe, die auf uns zukommt, etwa wenn man die Klimagefahren oder das Bevölkerungswach-stum nimmt. Der Roman wird zu einer unbarmherzigen Abrechnung mit Fortschrittsglauben aller Couleur. Reflektiert werden in diesem Kontext auch die Folgen der Atombombentests für die Bevölkerung in Kasachstan.
Bedrückend als im heimatlichen Ail am Aralsse an einem Tag 25 Familien ihre Häuser verlassen und ihre Habe auf Lastwagen abtransportieren. Ein Abschied für immer. Armut und fehlende Arbeitsmöglichkeiten ließen keine andere Wahl. Nurpeissow versteht es meisterhaft aus der Ich-Perspektive der erinnernden Hauptpersonen das gesellschaftliche Ganze zu umreißen. Alles ent-steht aus den Erinnerungen der Hauptpersonen heraus. Die Romanhandlung dauert nur einen Tag und eine Nacht, in denen an den Beteiligten das ganze Leben und die Sorgen und das Schicksal des Volkes vorbei ziehen.
Der einohrige Intrigant Sary Schaja will Jadiger davon überzeugen, daß er seine Ehre verteidigen soll. Doch er kümmert sich nicht darum, sondern flieht auf das Eis des Aralsees und denkt dar-über nach, was ihn in diese aussichtslose Lage geführt hat. Bakizat und Azim kommen dazu, als sie ihn dort bei der Abreise erkennen. Doch eine riesenhafte Eisfläche bricht ab und alle stehen plötzlich auf ihr, abgeschnitten vom Land. Es wird Nacht, auch einen zerzausten Wolf mit rot-glühenden Augen hat es auf die Eisinsel verschlagen. Nun beginnt ein elementares Ringen mit der Kräften der Natur. Jadiger verletzt sich. Wie wird Kampf ausgehen, gibt es eine Rettung?
Vergleicht man Abdishamil Nurpeissows Werk mit Aitmatows „Richtstatt“ oder „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“, so schreibt er ähnlich spannend und streng durchkomponiert mit imposanten Naturbildern. Ohne Bedenken würde ich mich der Bewertung des Slawisten Leonhard Kossuth anschließen, hier liegt ein Stück Weltliteratur aus Kasachstan vor. Das eine erste frühere Fassung den Moskauer Zensoren nicht gefallen hat, läßt sich gut vorstellen. Der kasachische Verleger schmuggelte deshalb den Text unbenannt in die Nachauflage einer frühere Romantrilogie des Autors. Über viele Jahre erweitere und bearbeitete Nurpeissow sein Werk zum Aralsee, das nun zwei Teile umfaßt.

Abdishamil Nurpeissow: Der sterbende See. Roman, 520 S., Dagyeli Verlag (Kasachische Bibliothek), 2006, 29,90€

 


 
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