Die allgegenwärtige Marketing-Orientierung

 

RAINER FUNK

 

(Auszug)


[...]

Das Marketing als Gesellschafts-Charakterorientierung

Daß das, was zählt und einen weiterbringt, die Verkaufsstrategie, das Marketing, ist, ist für den Bereich der Güterproduktion und der Dienstleistungen ganz offensichtlich. Doch spielt das Marketing inzwischen auch in der Politik, bei den Kulturschaffenden und Kulturvermarktenden, in der Informationsindustrie, im Bildungsbereich, bei den Kirchen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, ganz zu schweigen von der Unterhaltungsindustrie, eine zentrale, wenn nicht die zentrale Rolle. Überall geht es vorrangig um die Verpackung, das Aussehen, das Image, den Showeffekt, die Vermittlung, die Didaktik, die Performance, die Darstellung, das Outfit, die Inszenierung. Es geht nicht mehr um die Frage, was jemand faktisch tut und leistet, wer jemand ist, welche Fähigkeiten jemand tatsächlich hat. Alles dreht sich darum, wie man am besten seine behauptete Leistung, sein gut verpacktes Produkt, seine gestylte Persönlichkeit, sein selbstbewußtes Image, seine gut in Szene gesetzte Botschaft 'rüberbringt und verkauft. Sämtliche helfenden, pflegenden, heilenden, beratenden, verwaltenden Berufe sprechen inzwischen von Kunden, von Produkten, von Effektivität, Effizienz und Qualitätssicherung - begreifen also ihr Tun und ihr Leistungsangebot als Waren, die es zu verkaufen gilt.

Zweifellos ist diese fundamentale Veränderung in allen Lebensbereichen nur möglich, wenn viele Menschen eine tiefe leidenschaftliche Strebung entwickelt haben, die das Vermarkten und die Verkaufsstrategie als eine ganz wichtige Charakterorientierung verinnerlicht haben und deshalb in all ihren Lebensäußerungen danach streben, ihre Produkte und sich selbst gut zu verkaufen. Fromm selbst hat dabei die wichtigsten Etappen der Entwicklung zur gegenwärtigen Marketing-Orientierung in seinen Büchern Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I), Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II) und Haben oder Sein (1976a, GA II) beschrieben. Sein besonderes Verdienst ist, die sich aus den Veränderungen der Wirtschaftsbedingungen und Produktionsweisen ergebenden Veränderungen in der psychischen Struktur, sprich in der Dynamik der Charakterorientierung, im Detail aufgezeigt zu haben.

Fromm hat zunächst 1941 das Phänomen der Marketing-Orientierung als Fluchtmechanismus ins Konformistische im Kontext der Freiheitsfrage des neuzeitlichen Menschen beschrieben. Die "Lösung" "besteht, kurz gesagt, darin, daß der einzelne aufhört, er selbst zu sein; er gleicht sich völlig dem Persönlichkeitsmodell an, das ihm seine Kultur anbietet, und wird deshalb genau wie alle anderen und so, wie es die anderen von ihm erwarten. Die Diskrepanz zwischen dem ›Ich‹ und der Welt verschwindet und damit auch die bewußte Angst vor dem Alleinsein und der Ohnmacht." (E. Fromm, 1941a, GA I, S. 325.) Ohne daß Fromm hier eigens um einen Aufweis der sozio-ökonomichen Prägung dieser Grundstrebung bemüht wäre (sein Hauptanliegen in diesem Buch ist der Aufweis des autoritären Charakters), wird doch in seiner Beschreibung dieses Typus die Identifizierung mit den Erfordernissen der Massenproduktion und der zunehmenden Automation von Arbeitsvorgängen erkennbar.

Die automatisierte oder mit Hilfe eines Fließbandes ermöglichte Massenproduktion läßt ein Produkt wie das andere und einen Arbeitsvorgang wie den anderen aussehen, macht also das Gleichförmige zum Erfolgsrezept. Verinnerlicht resultiert aus dieser Produktionsweise die Attraktivität eines chamäleonhaften Konformismus und die Grundstrebung, wie ein Automat zu funktionieren. Die Lust am Konformismus und Gleichförmigen ist den Menschen oft nicht bewußt, läßt sich aber am faktischen Verhalten beobachten. Man will nicht merken müssen, daß mit dem Konformismus jedes Eigene und Unverwechselbare verloren geht, so daß es kein authentisches eigenes Denken, Fühlen und Wollen mehr gibt. Vielmehr werden diese Grundakte der Selbsttätigkeit durch Pseudo-Akte ersetzt: Man übernimmt die Rolle und hält das übernommene Denken, Fühlen und Wollen als sein ureigenstes. "Tatsächlich aber ist (der Mensch) in allen diesen Rollen das, wovon er glaubt, daß man es von ihm erwartet, und bei vielen Menschen, wenn nicht gar bei den meisten, wird das ursprüngliche Selbst vom Pseudo-Selbst erstickt." (E. Fromm, 1941a, GA I, S. 336.)
Sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Die Furcht vor der Freiheit formulierte Fromm in seinem Buch Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II) seine Gesellschafts-Charaktertheorie aus. Dabei thematisierte er auch den Prägungszusammenhang für die konformistische Charakterorientierung und gab ihr den Namen "Marketing-Orientierung". (Leider wurde bis 1980 Fromms Begriff der marketing orientation völlig irreführend mit "Markt-Orientierung" übersetzt.) Der neue Begriff, den Fromm offensichtlich einführte, noch bevor in der Betriebswirtschaft jemand von "Marketing" sprach, hat den Vorteil, daß er zugleich die zentrale ökonomische Erfordernis und die leidenschaftliche Grundstrebung zutreffend kennzeichnet: Das Marketing wurde zunehmend zum Motor der Wirtschaft, weil es die Nachfrage steigern half, und das Marketing kennzeichnet exakt das, was die Menschen zunehmend attraktiv finden und in ihrem Verhalten erstreben und realisieren.

In dem Maße, in dem sich der Markt auf Grund der Massenproduktion (ermöglicht durch neue Maschinen, Produktionstechniken, Materialien, Formen der Arbeitsorganisation etc.) nicht mehr am Bedarf der Menschen ausrichtet, orientiert sich der Wert einer Ware an der Verkäuflichkeit in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage und konzentriert sich alles auf die Frage, wie die Verkäuflichkeit gesteigert werden kann. Damit wird das Augenmerk vom Gebrauchswert, den eine Ware für den Menschen hat, weggelenkt, während die Frage der Verkaufsstrategien immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Mit dieser ökonomischen Erfordernis kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Produktionsweise identifiziert sich der Mensch. Er erlebt sich selbst, seine Persönlichkeit, als eine Ware, die es zu verkaufen gilt. "Die Charakterorientierung, die in der Erfahrung wurzelt, daß man selbst eine Ware ist und einen Tauschwert hat, nenne ich Marketing-Orientierung. (...) Erfolg hängt weitgehend davon ab, wie gut sich jemand auf dem Markt verkauft, wie gut er seine Persönlichkeit einbringt, sich in netter ›Aufmachung‹ präsentiert: ob er freundlich, tüchtig, aggressiv, zuverlässig, ehrgeizig ist, welche Familie hinter ihm steht, welchen Clubs er angehört und ob er mit den richtigen Leuten bekannt ist." (E. Fromm, 1947a, GA II, S. 48.) Die zugrunde liegende leidenschaftliche Orientierung ist immer, sich gut 'rüberzubringen, gut drauf zu sein, in jene Rolle schlüpfen zu können, die "in" ist, für die es einen Markt gibt, mit der man erfolgreich ist und gut ankommt. [...]