Ausschnitte aus dem Interview:

 

ERICH FROMM

 

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LITERATURMAGAZIN: Ja, sich nicht vom Schein trügen zu lassen, das haben sie ja gemacht als Therapeut. Sie greifen ja bei dieser Aussage auf Ihre Erfahrungen als Therapeut zurück.

FROMM: Ja. Genau. Ich habe seit 1926 analysiert und viele hunderte von Fälle von jüngeren Kollegen überwacht und kontrolliert. Und das sind empirische Dinge, die sich herausstellen, denn die Leute, die als Patienten kamen, die kamen gewöhnlich, weil sie irgendein kleines Symptom hatten oder dieses oder jenes. Wozu sie erst aufwachen mußten, war, daß sie tief unglücklich sind, daß sie mit dem Leben unzufrieden sind, das Leben keinen Sinn macht und das daraus erst die verschiedenen Symptome kommen, nämlich Versuche dieses Unglücklichsein zu kompensieren.

LITERATURMAGAZIN: Heißt das auch, daß die Menschen, die wir gemeinhin als normal bezeichnen, daß die von Ihrem Standpunkt aus krank sind?

FROMM: Oh ja. Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt. Aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und daß sie dadurch, durch diese Friktion, Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, daß etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt! Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen, das heißt, die Normalen, sind so angepaßt, die haben so alles, was ihr eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, so instrumente-, so roboterhaft geworden, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Das heißt, ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Haß, das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, daß sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie geben.

LITERATURMAGAZIN: Sehen sie die Ursachen dafür in unserer Gesellschaft?

FROMM: Die Ursachen scheinen mir ganz offenliegend zu sein: Unsere Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, daß es das Ziel des Lebens ist: die größere Produktion, als Kompensation und auch als Notwendigkeit die größere Konsumtion. Die Wirtschaft und der Fortschritt der Wirtschaft, und der Fortschritt der Technik, das ist das, wofür wir leben. Nicht der Mensch! Was dem Menschen nützt, das interessiert wenig, wenn man darüber nachdenkt, was das Ziel ist, worauf wir hinauskommen. Sogar nicht einmal, was dem Menschen schadet, spielt eine Rolle. Das ist ja notorisch, viele von unseren Anzeigen und Reklamen preisen Dinge an, die ausgesprochen tödlich, schädlich sind. [...]

LITERATURMAGAZIN: In ihrem Buch "Haben oder Sein" schreiben Sie, daß unsere Gesellschaft heute schon aus ökonomischen Gründen gezwungen ist, sich zu besinnen, weil sonst die Katastrophe bevorsteht. Sie verweisen auf den Club of Rome, der aus innerkapitalistischen Argumenten auf eine solche Katastrophe hinweist.

FROMM: Ja, ich glaube, es gibt heute nicht nur von den Veröffentlichungen, die vom Club of Rome veranlaßt worden sind, sondern bei einer ganzen Reihe von Forschern die Einsicht, daß, wenn wir so weitermachen, wie wir sind, d.h. alles verkonsumieren, die Natur zerstören, unseren Nachkommen nichts lassen, nichts als eine zerstörte und verarmte und vergiftete Welt, wenn die Menschen weiter nicht am Leben hängen, sondern am Profit und an der Macht, dann wird das mit Notwendigkeit führen zur atomischen Katastrophe, zum Krieg. Es sieht heute schon viel schlimmer aus, wenn fast jede Macht, man sagt, heute sind es vierzig Mächte, schon imstande sind, atomische Energie zu benutzen. Alles das wird verkauft aus Profitgründen. Und zweitens Mal haben eben eine Reihe von Forschern gezeigt, daß aus rein ökonomischen Gründen in 20, 50, 60 Jahren die Erde, unsere Ressourcen so verarmt sind, daß die armen Völker immer ärmer werden, die reichen Völker reicher, und daß es dann zur Katastrophe kommen muß: Denn wenn schließlich zwei Drittel der Welt, oder der Teil der Welt, der arm ist, immer ärmer wird, - ja, heute ist die Welt eine Welt -, dann wird sich eben diese arme Welt rächen mit hundert Möglichkeiten. Die Festung, die weiße Festung der Industriegesellschaft ist heute nicht mehr uneinnehmbar. [...]

FROMM: Ich schreibe ja in dem Buch sehr klar, daß ich die Aussichten für fast hoffnungslos halte. Alle Argumente, fast alle Argumente sprechen dafür, daß wir so weitermachen und in die Katastrophe schlittern. Ich sage aber auch: solange noch in Fragen des Lebens eine kleine Chance besteht, sagen wir von 1 oder 2 Prozent, solange darf man nicht aufgeben. Solange muß man alles versuchen, die Katastrophe zu vermeiden. Denn wenn man mit dem Leben handelt ist es anders als wenn man mit Geld handelt. Wenn man Geld investieren will, und nur 2% Chance hat, daß es einem nicht verloren geht, dann wird nur ein Narr es investieren. Wenn ein Mensch schwer krank ist, und nur 2% Chance besteht, daß sein Leben gerettet werden kann, wird die Medizin alle Mittel versuchen, um wegen dieser 2% sein Leben zu retten, für das die Chance so gering ist. Und es geht bei den gesellschaftlichen Fragen schließlich um das Leben der Menschheit. Man muß also den Standpunkt einnehmen - wenn die Chancen auch ganz gering sind! Solange man den Glauben haben kann, daß doch noch fast ein Wunder geschehen kann, solange man nicht beweisen kann, daß es unmöglich ist - und das kann man, wo es sich um lebende Prozesse handelt, eigentlich nie oder sehr selten -, solange muß man jeden Versuch machen. Und mein Buch ist ein Teil eines solchen Versuches, die Menschen aufzuwecken und ihnen klar zu machen oder sagen wir mal die Verdrängungen, die ungeheuren Verdrängungen der Realität aufzulockern und die Menschen das sehen zu lassen, was Millionen von Menschen wissen, ohne sich dessen klar bewußt zu sein. [...]

 
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