Über Kleinkariertes - oder über die Gefangenschaft im Klientelismus,

 

Rudolf Bahro

 

den man hin und wieder einmal radikal ausbrennen muß, oder man wird verdientermaßen politisch daran ersticken - und würdet Ihr auch noch zwanzig Jahre lang für den Kleinvieh-Mist gewählt, der Euch aber nicht die geringste echte politische Existenz begründen kann.
Ich sehe, daß Ihr Euch vor lauter noch dazu selbstischer Sozialarbeit, andere wieder vor lauter anachronistischem Rechtfertigungsbedürfnis, um den fortgesetzten Weltuntergang nicht schert, an dem aber die eigene Klientel ebenso unausgesetzt heuschreckenartig mitwirkt wie Ihr selbst, wie übrigens wir alle, sofern wir das Wesentliche überall, egal ob rechts oder links oder in der Mitte, für den Sanktnimmerleinstag liegen lassen.
Allzu detailliert muß ich dazu vielleicht doch nicht werden, weil Ihr im Grunde wißt, wie sehr Ihr in der Vertretung der verschiedensten am Ende wesenlosen Sonderinteressen festsitzt. ...

Was ist Klientelismus?

Es gibt wohl, sind wir erst einmal auch nur wenige Schritte über die reine Stammesgesellschaft hinaus, kaum ein älteres sozialhistorisches Phänomen als eine Klientel, als viele Klientelen. In den englischen mittelalterlichen Zeiten hatten auch etwa schottische Clan-Chefs zugleich schon ihre Klienten, da überschnitt sich oft schon neues vormodern Interessehaftes mit den alten quasi-natürlichen Abhängigkeiten. Es begann "eine Hand die andere zu waschen".
In gewissem Sinne ist Klientel etwas "Feudales", jedenfalls etwas unterhalb der ganz modernen Klasseninteressen Gelegenes, wobei es nun freilich die letzteren so unvermischt wie der Begriff und sein politischer Zweck vermuten lassen wohl auch nie gegeben hat (selbst Arbeiterführer hatten, und nicht nur im gewerkschaftlichen Bereich, oft auch noch ihre spezielle Klientel). Standesinteressen, organisatorisch dann oft zu solchen von Verbänden mutiert, werden insbesondere dann "klientelistischer", wenn die Stände an direkt gesamtgesellschaftlicher Bedeutung verlieren.
Andererseits fällt ein so modernes Phänomen wie der politische Lobbyismus auch unter den Begiff. Ein Wechselbalg wie eine im politischen Raum antretende "Autopartei" ist der Gipfel der Perversion. Wir haben Lobbyismus in Reinkultursoeben als internationales Phänomen gesehen: Offenbar waren die Erdölinteressen auf dem so schon zweifelhaften Berliner Klimagipfel "besser" vertreten als die der Nationalstaaten oder gar der Menschen als Menschen.
Schließlich, um die Sache so kompliziert zu zeigen, wie sie ist: Ein Bauarbeiter - dergleichen haben wir in mancher Konfrontation um Ökologisches gesehen - mag sowohl in seiner Gewerkschaft engagiert als auch von Fall zu Fall zum Beispiel der Autobahnlobby verpflichtet sein. "Filz" ist der volkstümliche Name für das am Ende recht unübersichtliche Netz der verschiedensten sich überschneidenen Klientelen.
Kurt Biedenkopf spricht, an seiner "Freiburger Schule" orientiert, für die modernen Gesellschaften sehr sinnfällig von "Besitzständen", von "Interessenhaufen", die soviel Macht und Einfluß geltend machen können, daß sich defacto immer öfter die Frage nach der "inneren" Souveränität des Staates stellt. Übrigens hatte die "Treuhand" einen Zug, der sie als Klientel altbundesdeutscher wirtschaftlicher Gesamtinteressen erscheinen lassen konnte.
Doch rücke ich dies alles hier nur ins Licht, damit wir vor dem Blick auf den spezifischen Klientelismus, der die PDS kennzeichnet, soetwas wie einen allgemeinen Bergiff von der Sache haben.
Sieht es doch bei der PDS auf den ersten Blick gerade nicht nach dem so mächtigen Besitzständen und Interessenhaufen aus, gerade nur nach dem Schutz gegen eine "konkret-historisch" übergreifende Staatssouveränität und zuweilen auch deren mafiosen Ersatz und Fortsatz. Es handelt sich - abgesehen nur vom Bezug der Partei auf sich selbst, die ja eine Rückverbindung zur einst zentralen Machtposition in der DDR-Gesellschaft und ein entsprechendes Rachebedürfnis nicht ganz verleugnen kann - um einen Underdog-Klientelismus.
Worin der wurzelt, ist wenigstens vordergründig allen klar, so daß ich die Phänomene nicht sehr viel näher bescheiben muß. Es ist halt bei der Vereinigung eine Unmenge von Arbeitsplatz-, von Status, von regionalen und lokalen Interessen verschiedenster Art unter die Räder gekommen. Da sollte nicht um Gleichstellung gekämpft werden?!
Und um es aus diesem Anlaß noch extra zu betonen: Daß es Klientelen -seien sie nun Top- oder Underdog oder irgendwo dazwischen, und gerade in dieser Beziehung zuweilen, wie gezeigt ja sehr vermischt- , daß es Klientelen gibt, ist an sich erst einmal nur "wertneutral" festzustellen. Das Problem beginnt mit ihrer sozialpolitischen Vertretung. Bisher wird die PDS als politische Partei fast erdrückt durch ein offensichtliches Übermaß an sozialpolitischen Defizitinteressen (tatsächlichen wie bloß empfundenen, das ist eine zweite Frage), die sie möglichst pur vertreten soll oder vertreten zu müssen meint. Ich sage: Sie läßt sich fast erdrücken, sie scheint das fatalerweise gern zu haben.
Daß es so herum liegt, hat sich am deutlichsten an der Sache mit den Gerechtigkeits-Komitees gezeigt, aus denen zum Glück für die PDS nicht viel wurde, weil das Ex-DDR-Volk doch nicht so klientelistisch gesinnt war, wie selbst ansonten kluge Parteimatadore dachten. "Gerechtigkeit" dieser Lesart, das war die Versuchung, die psychologisch reaktionärste Tendenz zu pflegen und auszubeuten, die man im Nachlaß finden konnte. Ich weiß, wie nahe das lag. Obwohl ich Gysi sagte, da kannst Du nur Ressentiment organisieren, hatte ich wegen irgenteiner Treuhand-Sauerei doch einen schwachen Augenblick lang Verständnis für den entsprechenden Impuls.
Besonders problematisch wird es, wen man diese "Linie", die wahhaft keine ist, auch noch nach Westdeutschland verlängert, z.B. um in Bremen auf - bei dem jetzigen Profil dennoch nicht wahrscheinliche - 5% für die Bürgerschaf zu kommen. Ich lese zufällig in einer Bremer Lokalausgabe der taz, Gysi gibt dem Betriebsrat der dortigen Vulkanwerft recht, eine Aufstockung der Subventionen zu verlangen, weil die Bundesrepublik das einzige OECD-Land sei, das die entsprechenden Töpfe nicht ausschöpft. Die OECD ist der Club der mächtigsten Industriestaaten, unter denen wiederum die Bundesrepublik einer der allermächtigsten ist. Man darf also erst einemal den Sachverhalt bezweifeln. Immerhin ist´s möglich, daß sich auch der größte Hai einmal einen "ihm zustehenden" Brocken entgehen läßt.
Worum handelt es sich bei diesen Subventionen? Es handelt sich darum, welches dieser reichsten Länder - zu den u.a., aber vergleichsweise immer noch abgeschlagen, auch Spanien gehört - seine teure Produktion, in diesem Falle von Schiffen, im Preis so heruntersubventioniert, daß sie auf den Weltmarkt gedrückt werden können, und die Produkte anderer Nationen, z.B. Schiffe aus der baskischen Werft Bilbao, aus dem Weltmarkt hinaus. Sollen doch die Spanier bzw. Basken als erste stempeln gehen. Gleichzeitig würde sich Gysi wahrscheinlich freuen, noch mal von Gonzalez empfangen zu werden (der seinerseits Werften subventioniert hat, was das Zeug hält, aber die schlechteren Karten hatte).
Die Sünde ist einfach Prinzipenlosigkeit. Wahrscheinlich ist seit dem Untergang der SED, auf dem er und andere im Herbst ´89 mit einem noch DDR-bezogenen Machterhalts-Reformansatz reagiert hatten, gar keine Zeit mehr zum Nachdenken gewesen. Was das "alles ist erlaubt", anything goes" betrifft, gibt es kein postmoderneres Projekt als die PDS.
Die unmittelbaren Interessen der deutschen Werftarbeiter, immer noch einer der reichsten und saturiertesten Sektoren einer der reichsten Arbeiterklassen der Welt, drängen sich auf. Insofern ihre Branche seit 20 Jahren im Abstieg ist, könnten sie ja zu Underdogs werden. Wenn man schon für die Ostseeküste um die entsprechenden Subventionen wirbt, wieso nicht für die Nordseeküste auch? Mehr braucht es nicht, um pragmatisch "an ihrer Seite zu stehen".
Andermal, wie kürzlich im Falle von Biskys Stellungnahme gegen die Fusion Berlin-Brandenburgtrifft die Partei, ebenso prinzipienlos, den echte Gründe gegen dieses Projekt stellt sie anscheinend bewußt nicht in den Vordergrund, zufällig mal eine richtige Entscheidung. Sie mag ja jedesmal meinen, mit der Wurst nach dem Schinken zu werfen. In Wirklichkeit wirft sie mit dem Schinken nach der Wurst. Politisch, als politische Partei hat sie bei diesem Spiel nichts zu gewinnen, am Ende alles, vor allem alles, was es wert ist zu verlieren.
Daß dies von ihr selbst nicht genug bemerkt und auch nicht halbwegs kontrolliert wird, macht die Sache als das Niveauproblem ihrer ganzen Existenz kenntlich. Was fehlt, könnte für den Anfang eine vierwöchige Klausur - realpolisch eine kleine Ewigkeit, für eine echte Einkehr immer noch recht kurz - sein, um einmal, immer noch postmodern, wenigstens die in der Situation liegenden Möglichkeiten nebeneinander auf die Reihe zu bringen.

Aus: "Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR. Über Ökologie, Kommunismus und wie die PDS doch einen Sinn machen könnte", geschrieben 1995

abgeduckt 2007 in: Rudolf Bahro: Denker, Reformator, Homo politicus (132 Seiten im Band)