Warum Hartz IV so teuer wird? Der Mythos vom Mißbrauch
Dafür sind drei Faktoren verantwortlich. Erstens hat die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Reduzierung der verdeckten Armut beigetragen (Dunkelziffereffekt). Insbesondere Personengruppen, die früher nur Arbeitslosenhilfe erhielten und ihr Recht auf ergänzende Sozialhilfeleistungen nicht wahrgenommen haben, realisieren nun als Bedarfsgemeinschaften im Rahmen der neuen Grundsicherung für Arbeitslose häufiger ihre Anrechte. Zweitens stieg die Anzahl der Langzeitarbeitslosen weiter an - von 1,3 Millionen im Jahr 2003 und 1,4 Millionen 2004 auf 1,5 Millionen im Jahr 2005 (Arbeitsmarkteffekt). Drittens werden Arbeitslose zunehmend über Arbeitslosengeld II (ALG II) und weniger über Arbeitslosengeld I (ALG I) abgesichert. Die Anzahl der EmpfängerInnen von ALG I sank von 1,9 Millionen im Jahr 2003 über 1,8 Millionen im Jahr 2004 auf 1,7 Millionen im Jahr 2005. Vermutlich zeigen hier die Verkürzung der Rahmenfrist für die Berechnung des Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre und die Verkürzung der Bezugsdauer des ALG I auf einheitlich 12 Monate ihre Wirkungen. Dieser Verschiebeeffekt wird durch die neue Kunden-Segmentierung der Bundesagentur für Arbeit (BA) gestützt: Arbeitslose mit nur geringen Vermittlungschancen gehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Rechtskreis Sozialgesetzbuchs (SGB) II über. 2. DIE EINSPARUNGEN IM RECHTSKREIS SOZIALGESETZBUCH (SGB) III ÜBERTREFFEN
DEN KOSTENANSTIEG BEI HARTZ IV 3. DER REGELSATZ SICHERT SOZIO-KULTURELLES EXISTENZMINIMUM NICHT Bezugsgröße für den Regelsatz ist nicht der mittlere Lebensstandard der Bevölkerung, sondern sind die Konsumausgaben des unteren Fünftels der Bevölkerung, die auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstatistik des Statistischen Bundesamtes (EVS) erhoben werden. Dabei werden, auf Basis politischer und nicht sachlicher Erwägungen weitere Abzüge vorgenommen (beispielsweise für Uhren, Schmuck, Musikunterricht). Zudem bleiben Preissteigerungen unberücksichtigt. Nach den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands müssten die Regelsätze daher dringend um 19 Prozent auf 412 Euro angehoben - und nicht etwa gesenkt - werden, um den täglichen Bedarf abzudecken und ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe sicherzustellen. 4. HARTZ IV MACHT MEHR MENSCHEN ARM In den Arbeitslosenhilfe-Haushalten ist die Armutsquote um mehr als
zehn Prozentpunkte - von etwa 50 Prozent vor der Reform auf ca. 63 Prozent
im Jahr 2005 angestiegen. Da die Bewilligung der Unterstützungsleistung
auf Basis einer strengen Bedarfsprüfung erfolgt, müssen ALG-II-EmpfängerInnen
für ihren Lebensunterhalt zudem auf privates Spar-Vermögen
zugreifen. Da die Rentenanwartschaften, die ALG-II-EmpfängerInnen
in der Gesetzlichen Rentenversicherung erwerben können, äußerst
gering sind, ist Altersarmut vorprogrammiert. Dennoch wird ihr Beitrag
zur Rentenversicherung derzeit halbiert, um Einsparungen in Höhe
von zwei Milliarden Euro zu realisieren. Für ehemalige Sozialhilfebeziehende
stellt die Einbeziehung in die Renten- und Krankenversicherung eine Verbesserung
dar. Im Leistungsbezug sind keine Verbesserungen zu erwarten, wenngleich
Evaluierungsstudien noch ausstehen. Auf Grund der bisherigen Datenlage
deutet daher vieles darauf hin: Durch Hartz IV geraten mehr Menschen 5. ARBEIT LOHNT SICH TROTZ HARTZ IV Nimmt derselbe Familienvater eine Erwerbstätigkeit an, bei der
er 1009 Euro verdient, erhält er zusätzlich zu seinem Gehalt
noch 154 Euro Kindergeld pro Kind sowie den Kinderzuschlag von 140 Euro,
und erzielt damit ein Haushaltseinkommen über der Bedarfsgrenze.
Für eine vierköpfige Familie reicht ein Nettoarbeitseinkommen
von ca. 1000 Euro aus, um ein Haushaltseinkommen in Höhe des maximalen
Bedarfssatzes zu erzielen. Allerdings beziehen nur wenige Bedarfsgemeinschaften
die Höchstsätze der Grundsicherung. Im Durchschnitt zahlt die
Arbeitsagentur einer vierköpfigen Familie 919 Euro aus, also fast
700 Euro weniger als der maximale Bedarfssatz ermöglicht. Grund
dafür ist, dass jedes zusätzliche Einkommen den Bedarfssatz
reduziert und für viele Arbeit wichtiger als der Verdienst ist:
Gerade die Erfahrung mit den Ein-Euro-Jobs verdeutlicht, dass die meisten
Arbeitslosen sehr wohl bereit zur Aufnahme einer noch so gering entlohnten
Beschäftigung sind. Arbeitsgelegenheiten stehen j 6. NIEDRIGLOHN WIRD BEREITS JETZT SUBVENTIONIERT Nur ein gesetzlicher Mindestlohn könnte diese Negativspirale und die dauerhafte Subvention regulärer Arbeitsverhältnisse verhindern. 7. MISSBRAUCHS- UND MITNAHMEFÄLLE SIND STATISTISCH BETRACHTET NICHT
RELEVANT Hinter der Debatte um Leistungsmissbrauch steht oftmals ein falsches Verständnis des Missbrauchbegriffs. Denn Missbrauch im eigentlichen Sinne bedeutet die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, z. B. auf der Grundlage von unvollständigen oder Falschangaben zur Hilfebedürftigkeit. Rechtmäßiger Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung besteht immer dann, wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Dementsprechend ist das Geltendmachen rechtmäßiger Ansprüche legitim. Die Anzahl der Personen, die ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht geltend gemacht hatte, jetzt aber durch die Bedarfsgemeinschaft mit ALG-II-EmpfängerInnen sichtbar wird, werden von Becker und Hauser auf 1,8 Millionen geschätzt: Diese Inanspruchnahme im Rahmen von Missbrauchsdebatten zu instrumentalisieren ist unzulässig und stellt das Sicherungssystem grundsätzlich in Frage. FAZIT Der aktuelle Reformdiskurs, der sich - unter Ausblendung der massiven Reduzierung der für aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel - ausschließlich an der konstruierten Notwendigkeit des Sparens orientiert, widerspricht der Absicht, Sozialpolitik zur Aktivierung von individuellen Handlungspotenzialen und als Investition in das Sozialkapital zu nutzen. Erreicht wird durch die aktuelle Politik der Daumenschrauben und des Spardiktats lediglich, dass - bei ausbleibender Arbeitsnachfrage - die Menge der zwangsläufig in Passivität verharrenden, stigmatisierten und unter Generalverdacht gestellten Personen wächst und Vertrauen und Zufriedenheit als Fundament eines demokratischen Sozialstaats schwinden. Will man Langzeitarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen und das Anwachsen von Armut verhindern, ist es notwendig, anstelle einer weiteren Reduzierung der Leistungen das Existenzminimum neu zu definieren und Eingliederungsmittel tatsächlich zu verwenden. Nur dann kann das eigentliche Ziel der Reform eingelöst werden: Die Stärkung der individuellen Autonomie der Arbeitslosen durch Bereitstellung existenzsichernder sozialer Leistungen und die aktive Förderung der Wiedereingliederung. DIE AUTOR/INNEN: Am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung haben sich mit dem Thema beschäftigt: Judith Aust und Till Müller-Schoell (wissenschaftliche Mitarbeiter), Silke Bothfeld und Simone Leiber (wissenschaftliche Referatsleiterinnen für den Bereich Arbeitsmarktpolitik und den Bereich Sozialpolitik) und die Praktikantin Britta Seine. Bothfeld und Müller-Schoell arbeiten außerdem in dem Projekt: MonAPoli - Monitor Arbeitsmarktpolitik mit, das die Arbeitsmarktreformen kritisch begleitet. Ziel des Projektes ist die Bereitstellung von Orientierungswissen zum Verständnis der Hartz-Reformen und die zeitnahe Aufbereitung und Kommentierung von Daten und Berichten. MonAPoli wird gemeinsam von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner- Stiftung der IG Metall finanziert. Weitere Informationen zu den Arbeitsmarktreformen unter: www.monapoli.de |