Kontroversen zu Frieds Vietnamgedichten:

Über das politische Gedicht

Marko Ferst


Unter anderem über die Vietnamgedichte kommt es zu einer Kontroverse zwischen Günter Grass und Erich Fried. Im Gedichtband "Ausgefragt" (1) von Grass gibt es das Gedicht "Irgendwas machen", wo er sich über das Protestgedicht lustig macht. So meint er darin, die "Herstellungskosten" solcher Art politischer Gedichte seien gering, und sie wären zu abhängig von je aktuellen Konjunkturen. So schaffe beispielsweise die Aufrüstung den Raum für vermarktbare Anti-Kriegsgedichte. Dann kommt eine sehr unsägliche Passage, diese Gedichte seien zu fünf Achteln aus ohnmächtiger Wut gespeist, aus zwei Achteln alltäglichem Ärger und einem Achtel gerechten Zorns.
Eine solche Sicht vereinfacht in unzulässigerweise, läßt den Gang des politischen Nachforschens, daß sich der Autor seinen eigenen unhinterfragten Selbstverständlichkeiten stellt, außer acht. Es geht darum verübtes Unrecht transparent werden zu lassen, und das Stimmlose, das entrechtete Menschsein aus dem Unbekannten, aus dem Verschweigen herauszubrechen bzw. diesen Vorgang des Bewußtmachens zu verstärken. Das politische Gedicht sollte die Fähigkeit, sich ein eigenes differenziertes Urteil zu bilden, stärken dürfen. Freilich gilt dies nicht nur für die Interpretation, die dem Autor naheliegen würde, sondern in mehrdimensionaler Weise.
Die "Achtelteilung", die Grass 1967 vermutet, verweist darauf, das politische Gedicht kann nicht auskommen ohne fundierte Kenntnis von Zusammenhängen. Es übersteigt in seiner Kürze und in der Möglichkeit, sprachliche Gegenfragen, Überbrückungen oder andere Virtuositäten einzubauen, oftmals den Spielraum konventioneller politischer Texte. Einen Sachverhalt, wie den zu Waffenlieferungen Westdeutschlands an die Nationalgardisten in El Salvador
in Frieds Gedicht "Betroffen" kann man sicher auch in einem kurzen Zeitungsessay gut fassen. Doch der politische Querschnitt eines Gedichtbandes (zumindest bei Fried) läßt sich nicht in Essayform bringen. (2)
Daß der von Grass proklamierte Horizont nicht die ganze Wahrheit sein kann, zeigt er zum Beispiel in seinem "Novemberland" von 1993, wo er in 13 Sonetten vorsichtige Protestkultur bietet gegen eine bestimmte Art deutscher Beschränktheit in der gesellschaftskulturellen Verfaßtheit. Auch diese Gedichte haben Differenzen zum Verständnis Frieds, kommen dem aber verdächtig nahe.
Fried selbst bemerkt zu den Spottversen von Grass auf das Protestgedicht, daß vom Dichter verlangt ist, die eigenen Heucheleien und die Ungenauigkeiten beim Aufbau im eigenen Bewußtsein zu entdecken. Dem engagierten Gedicht "ohnmächtige Wut" vorzuhalten, sei merkwürdig unsensibel, und überhaupt könne der Einfluß von Gedichten nicht über "Divisionen" gemessen werden. Da Maulkörbe anlegen zu wollen, fast in der gleichen Art wie es Bundeskanzler Ludwig Erhard von Grass über rüde Beschimpfung forderte, sei einfach nicht opportun. (3)
Fried spricht nur davon, parteipolitische Aussagen oder Stellungnahmen sollten vermieden werden. Vielleicht ist das zu wenig. Andersherum kann man keinem Autor, keiner Autorin vorschreiben, welches Thema als Tabu zu sehen ist. Fried besteht darauf, Gedanken und Kunstwerke müssen auch ketzerisch sein dürfen, sie dürfen sich in einer Gesellschaft nicht gleichschalten lassen. Berücksichtigen muß der Künstler, er bewegt meist mehr als er weiß in seinen Werken, das Unbewußte arbeitet mit. Ein Gedicht schreiben bedeutet einen Erkenntnisvorgang. (4)
Die Form und der Inhalt eines Gedichtes läßt sich nach Auffassung Frieds nicht auseinanderdividieren. Das eine ist auf das andere bezogen. Vermieden werden müssen vielmehr Klischees. Die eigenen Gedanken und Gefühle in dieser Welt müssen sprachlich genau genommen werden. Aus dem Stil des Autors kann man erkennen, auf welche Weise er sich mit der Welt und ihren Problemen auseinandersetzt. Das wäre eine Art Stilpsychologie. (5) Ich halte die Überlegung für zutreffend, sie entspricht meinen Leseerfahrungen.
Die sprachlichen Gestaltungsmittel im Gedicht sollten frei wählbar sein und nicht unter einer Last von vermeidlichen lyrischen Gesetzen reglementiert werden. Der weißrussische Dichter Ales Rasanau bringt das sehr schön auf den Punkt, wenn er deutlich macht, jeder Poet formuliert die Regeln und das Ziel der Poesie auf seine eigene Weise. Anders gelangt man zu keiner "Fahrt ins Unbekannte", sondern zu "einer Fahrt nach der Straßenverkehrsordnung". (6)
Das nachfolgende Gedicht von mir selbst ist ein wenig das Produkt der eben geschilderten Kontroversen, aber auch andere Erfahrungen spielen herein. Da es manches weiter faßt als der obige Text, will ich es hier nicht vorenthalten, auch wenn noch nicht gänzlich sicher ist, ob dies die endgültige Fassung bleibt. Im Untertext wird darauf verwiesen, daß es sich unter anderem auch als Kommentar zu dem Gedicht "Irgendwas machen" von Günter Grass bezieht.


Vom politischen Gedicht


Da dringt etwas ein
wandelt längst Gesichtetes
ganz unten beginnt es
in Menschenbahnen
es härtet keinen Stahl
öffnet auch keine Märkte
für Ohnmacht
schafft nicht mal Vorräte
für immer schon
Bescheid Gewußtes

Es denkt sich weiter
bewegt von innen heraus
alles nur gestützte Worte
Strickwerk zwischen Verstandenem
verbunden mit teils
unsichtbaren Küstenlinien
ein Aufbäumen, ein Widerstehen,
ein Zweifeln

Vier Achtel fundiertes Wissen
und ungebrochene Sicht
drei Achtel Intuition
und ein Achtel politische Leidenschaft
so ungefähr
ließe es sich mischen
damit es nicht
unter Wert gehandelt
in artfremden Konjunkturen
falsch ausgespielt
dem Widersinn zum Opfer fällt

In einem Interview von 1980 äußert Fried, er schrieb die Vietnamgedichte, weil ihm die dort im Land vorgefallenen Dinge äußerst zu Herzen gingen. Zugleich meint er, der Vietnamband sei ihm nicht der liebste Band, wenn es um die Anzahl gelungener Gedichte geht, (7) auch wenn der Band mit die höchste Auflage hatte. (8) Gemessen daran, ob man gute Gedichte im Band findet, dürfte man allerdings schon fündig werden, bleibt einzuwenden.
Peter Rühmkorf vermerkt, auch Fried konnte für seinen Vietnamgedichtband nur jene Nachrichtenorgane nutzen, denen die breitere Öffentlichkeit ihr "getrübtes Bewußtsein" von sich selbst verdankt. Dennoch gelang es ihm aus "falschen Zungenschlägen" und "rotstichigen Sachmeldungen" die allgemeine Verdunklung der Geschehnisse "einen Vers lang aufzuheben". (9) Es gibt also auch gänzlich entgegengesetzte Einschätzungen, denen ich mich sehr gut anschließen kann.
Etwas anders dagegen Peter Härtling: Die Kritik am atavistischen Vorgehen der Amerikaner teilt er, aber ein Gedicht oder einen Roman über Vietnam könne er nicht schreiben. Er meint, es gäbe keine Sprache, um dies in angemessener Form tun zu können. Gegen eine vorgefertigte Moral und veraltete Ästhetik wehre er sich. (10) Diese letzte Aussage ist für mich nicht nachvollziehbar. Das Nichtvorhandensein der unmittelbaren konkreten Kriegserfahrungen bedeutet gewiß eine fehlende entscheidende Dimension, die durch nichts zu ersetzen ist. Warum deshalb gleich jeder literarische Versuch, sich dem Vietnamkrieg zu stellen, fragwürdig sein soll, erschließt sich jedoch nicht. Im übrigen müßte eine solche Einschätzung auch für die meisten anderen Gedichte geltend gemacht werden, die wir in der Arbeit zum Thema Krieg von Fried vorgestellt haben. Das wäre absurd. Man kann oder darf wirklich nichts sagen in literarischer Form zu einem Land, über dem weit mehr amerikanische Bomben abgeworfen wurden, wie im ganzen zweiten Weltkrieg? Diese Behauptung wäre ein geistiges und literarisches Armutszeugnis. Unbenommen davon ist, nicht jeder Autor will oder kann das Thema Krieg behandeln. Man sollte als Autor oder Autorin nicht über ein Thema schreiben, zu dem man keinen Zugang hat, was einen nicht wirklich im Innersten bewegt.
Anders sieht es mit einer konkreten Kritik aus, die Peter Härtling an Fried inhaltlich übt. Er meint, er vermisse bei den Vietnamgedichten, auch vietnamesische Soldaten töteten Frauen und Kinder, Folter dürfte zum Zuge gekommen sein. Fried würde die "schwarzen Kittel" "unbeschrieben in die Ehrbarkeit" entlassen. (11) Gerade letzterer Hinweis überzeugt. Wenn man sich noch mal die aufgeführten Daten über den Ablauf des Krieges im Vietnamabschnitt vergegenwärtigt, dann ist klar, daß es in einem solchen Kontext auch auf der anderen Seite zu entsetzlichen Vorkommnissen gekommen sein dürfte. Direkt geht Fried darauf nicht ein, wenngleich der Krieg auch nicht als ein Befreiungsakt der anderen Seite präsentiert wird, sondern eher das Gesamtgrauen. Hier sind auch die Grenzen zu sehen, dessen was man literarisch formulieren kann oder nicht in so einer konkreten Situation, wenn man nicht im Land selbst lebt. Ich würde nicht ausschließen, daß Fried auch Verfehlungen auf der anderen Seite in Gedichtzeilen montiert haben könnte, so ihm handhabbare Kenntnisse zuverlässiger Art zu Ohren gekommen wären.
Auch wenn man sich ansieht, wie Fried andere Themen in seinem Werk behandelt, dann spricht einiges dagegen, daß er gezielt diese Sphäre ausgeklammert hat. Allerdings muß man auch sehen, daß der Ausrottungsfeldzug, den US-Amerika betrieben hat, zunächst mal das viel gewichtigere Problem ist, das auslösende Problem. Hier wird ein Volk seit mehr als 100 Jahren von Kolonialmächten geknechtet, versucht sich von dieser Fremdherrschaft zu befreien. Da zuerst auf die Verfehlungen dieses Prozesses zu orientieren, hat dann, obwohl berechtigt, auch etwas sehr Einseitiges an sich.
Selbst schrieb ich ein umfangreiches Gedicht zum Kosovokrieg. Trotz aller Abwägungen und Anfragen darin um die fatalen Bombardements, blieben die Konfliktfragen der vorhergehenden Kriege auf dem Balkan ausgeblendet. Dem lag nicht die Absicht zugrunde, ein einseitiges Bild zu zeichnen. Die widersprüchlichen Kenntnisse über den wirklichen Verlauf, die vielen Lücken und auch die vielen offenen Fragen ließen dies einfach nicht zu. Selbst der Entwurf eines späteren Gedichtes, das allgemeiner die Frage thematisiert, in welchem Verhältnis militärische Hilfe in letzter Instanz dazu einsetzbar ist, Menschenleben in tödlichen Konfliktsituationen zu retten, in Ruanda stellte sich die Frage ähnlich, ist außerordentlich quälend. Gewiß reflektiert man über die Vorsorge, daß es erst gar nicht zu Konflikten kommt, heute überhaupt nicht mehr. In der Praxis wird jeder Ansatz dazu letztlich durch die wirklichen Taten der westlichen Staaten konterkariert. Ich kann nicht erst in Afrika dunkelste Elemente unterstützen, ethnische Konflikte verstärken, damit diverse Rohstoffe billig geliefert werden und dann plötzlich als Friedensengel Menschenrechte an anderer Stelle militärisch schützen wollen.
Ich will darauf hinweisen, daß also solche "Lücken", auf die Härtling hinweist, nicht unbedingt mit der ideologischen Borniertheit des Autors zu tun haben müssen. Dennoch gibt es gute Gründe in der politischen Dichtung, wenn das möglich ist, diese "Lücken" zu vermeiden. Dies geht freilich nur, wenn gewährleistet bleibt, der literarischen Stoff wirkt um seiner selbst willen und wird nicht eingespannt, um krampfhaft Fehlinterpretationen zu vermeiden. Wenn der entsprechende Einfall nicht kommt, dann kann man ihn auch nicht hervorzwingen.


(1) Günter Grass; Die Gedichte 1955-1986, Darmstadt, 1988, S.182 f.
(2) Auch bei meinem eigenen Gedichtband (Ohne gezüchtete Dornen) habe ich den Eindruck, die Vielzahl der politisch-geistigen Themen und ihre indirekte Vernetzung untereinander ließe sich nicht durch politische Texte oder Essays herstellen, obgleich Einzelaspekte selbstverständlich so darstellbar sind.
(3) Erich Fried; Ist "Ausgefragt" fragwürdig?, konkret, Nr.7/1967
(4) Erich Fried; Die Muse hat Kanten. Aufsätze zur Literatur, Berlin,1995,S.34, 69, 77
(5) Erich Fried; Die Muse hat Kanten. Aufsätze zur Literatur, Berlin,1995, S.74
(6) Ales Rasanau; Zeichen vertikaler Zeit, Berlin, 1995
(7) Anläufe und Anfechtungen. Gespräch mit Erich Fried (Hanjo Kesting), in: Rudolf Wolff (Hrsg.); Erich Fried. Gespräche und Kritiken, Bonn, 1986, S.38
(8) Die höchste Auflage hat späterhin sein Band mit Liebesgedichten unter dem Titel "Als ich mich nach dir verzehrte"
(8) Die höchste Auflage hat späterhin sein Band mit Liebesgedichten unter dem Titel "Als ich mich nach dir verzehrte"
(9) Christiane Jessen, Volker Kaukoreit, Klaus Wagenbach (Hrsg.); Erich Fried. Ein Chronik. Leben und Werk: Das biographische Lesebuch, Berlin, 1998, S.72
(10) Peter Härtling; Gegen rhetorische Ohnmacht. Kann man über Vietnam Gedichte schreiben; in: Rudolf Wolff (Hrsg.); Erich Fried. Gespräche und Kritiken, Bonn, 1986, S.151 ff.
(11) Peter Härtling; Gegen rhetorische Ohnmacht. Kann man über Vietnam Gedichte schreiben; in: Rudolf Wolff (Hrsg.); Erich Fried. Gespräche und Kritiken, Bonn, 1986, S.154 f.

2004 erschienen:

Marko Ferst; Ohne gezüchtete Dornen. Politische, ökologische und spirituelle Gedichte

 

 

 

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