Trotz Arbeit nicht genug zum Leben

Ein Undercover-Report von Markus Breitscheidel mit Vorwort von Günter Wallraff

von Marko Ferst


Ü ber anderthalb Jahre testete Markus Breitscheidel die Praxis der neuen Arbeitswelten. Er zeigt auf wie der Niedriglohnbereich aussieht und beschreibt dies in seinem überaus spannenden Undercover-Report „Arm durch Arbeit“. Er bilanziert, welche Folgen Hartz IV für die Familien und den Einzelnen hat, arbeitet als Leiharbeiter bei Opel und Bayer-Schering und probiert sich als Erntehelfer in Brandenburg und Sachsen.
Am Beispiel eines Briefzustellers demonstriert der Autor wie heute moderne Kopfgeldjäger arbeiten. Private Arbeitsvermittler bekommen für eine erfolgreiche Vermittlung eines Arbeitslosen 2000 €. Da die Provision gezahlt wird, wenn der Beschäftigte mindestens drei Monate in Arbeit bleibt, kann man praktisch gratis Arbeitskräfte einkaufen. Wenn Briefzusteller und Vermittlungsagentur zusammenhängen, ist das ein lohnender Deal. Scharf angegriffen wird in dem Buch der frühere Super-Minister Clement, weil er tarifliche und gesetzliche Hemmnisse zum Ausbau der Leiharbeit beseitigte und jetzt als „Chairman“ des Zeitarbeits-Unternehmens Adecco davon profitiert, so Wallraff in seinem Vorwort. Die Anzahl der Leiharbeiter stieg zuletzt rapide an auf nahezu 600.000 Menschen.
Breitscheidels erster Einsatz erfolgt in der Qualitätskontrolle bei Opel. Lampen und Schläuche von ausländischen Produzenten sollen geprüft werden. Wenn man dem Autor glauben darf, scheint diese nicht wirklich zu funktionieren, denn sie werden aufgefordert nicht so viele schadhafte Teile auszusondern. Wirklich zermürbend: Es gibt keine geregelte Arbeitzeit. Nach Anruf muss er innerhalb einer halben Stunde im Werk sein: Mal für vier Stunden, mal länger. Bezahlt werden nur geleistete Arbeitsstunden. Dafür erhält er einen Stundenlohn von 7,15 € brutto, während das niedrigste Einstiegsgehalt für Opel bei 13,50 € plus Zuschlägen liegt. Im Gegenzug darf er für ein Mittagessen doppelt soviel wie ein Opelaner in der Kantine zahlen, Pausenräume gibt es nicht. Zuletzt wurden auch die Lehrlinge bei Opel nicht mehr übernommen. Jedoch über Zeitarbeitsfirmen ist der Einstieg möglich - zu geringerem Lohn.
Die zweite Station führt den Autor zu Bayer Schering Pharma nach Berlin. Dort überlässt man das Geschäft mit der Leiharbeit nicht Firmen wie Adecco und Randstad, sondern nimmt es gleich selbst in die Hand. Statt 17,50 brutto erhält er hier als Leiharbeiter nur 5,20 €, obwohl er bald alle Arbeiten ausführt wie ein regulär Beschäftigter. In seinem Umfeld sind Leiharbeiter schon weit in der Überzahl. Zum ersten Mal findet er einen Mitarbeiter, der nach fünf Jahren Leiharbeit regulär übernommen wurde. Für die schlechte Bezahlung der Leiharbeit sorgen die Tarifabschlüsse vom Christlichen Gewerkschaftsbund, eine Kreation von Arbeitgeberseite gesponsert. Breitscheidel rät als Konsequenz die Leiharbeit gesetzlich auf maximal zehn Prozent der Belegschaft zu begrenzen. Nach einem Einarbeitungsmonat müsste gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Die Überlassungszeit sollte auf drei Monate beschränkt bleiben. Nur so liesse sich verhindern, dass tarifliche Arbeitsplätze in Niedriglohnsegmente umgewandelt werden.
Seinen Lohn aufstocken lassen muss der Undercover-Autor auch, als er durch das Grundamt zu einem brandenburgischen Bauern vermittelt wird. Nach Leistung bezahlt gibt es für eine Schale Erdbeeren je 500g 0,25 Cent. Sind die zu pflückenden Früchte besonders klein geraten, sinkt der Stundenlohn schon mal auf 1,25 €. Dabei verlangt der Bauer noch, die faulen Erdbeeren müssten aus dem Feld entfernt werden und setzt unbezahlte Überstunden an. Auch wenn die Erdbeeren größer sind, 3 € je Stunde sind kaum zu erreichen, schon gar nicht, wenn gelegentlich 12 Stunden Einsatz gefordert werden. Kündigen darf man nicht, sonst wird das Arbeitslosengeld II für drei Monate ausgesetzt. Die tarifliche Welt der Erntehelfer bleibt in Ost und West gespalten: 3,21 € stehen 6,50 gegenüber. Auffallend viele Frauen sind im Einsatz. Polnische Männer arbeiten inzwischen lieber in Irland: Dort gibt es einen Mindestlohn in der Landwirtschaft von nahezu 10 €.
Nicht viel besser fällt Lohnergebnis beim Äpfelpflücken in Sachsen aus. Nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer bleiben für 220 Stunden Einsatz 554,50 € übrig, die Stunde für 2,52 €. Doch auch der Bauer klagt: Seit Mitte der 90er Jahre sanken die Preise je Tonne Äpfel von 55 auf 35 € bei steigenden Nebenkosten. Ohne Agrarsubventionen wäre sein Betrieb längst pleite, chinesische Äpfel sind billiger für die Discounter.
Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Böckler-Stiftung arbeiteten 2007 in Deutschland bereits 7,8 Mill. Menschen zu niedrigen Löhnen, Tendenz steigend. Im Gegensatz zu 22 EU-Staaten gibt es in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn noch nicht. So resümiert Breidscheidel werden weiter die Sozial- und Rentenkassen zugunsten der Unternehmen geplündert, muss der Steuerzahler für den faktischen Kombilohn aufkommen in Form der Aufstockung der Löhne durch das ALG II. Der Autor zeigt auf – die Gesellschaft darf die schwarz-rote Politik der Billiglöhne nicht länger hinnehmen.

Markus Breitscheidel: Arm durch Arbeit. Ein Undercover-Bericht, Econ – Ullstein Buchverlage, 220 S.,brosch. 18 €

Neues Deutschland, 22.12.2008


 

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