Wenn wenige immer reicher werden


Über Schneeleoparden, die rabiaten Gesetze der Marktwirtschaft und eine kirgisische Legende


Tschingis Aitmatow


Tschingis Aitmatow, geboren 1928 im kirgisischen Dorf Scheker, wurde 1958 mit seiner Novelle »Dshamila« weltberühmt. Es folgten Werke wie »Goldspur der Garben« (1963), »Abschied von Gülsary« (1966) , »Der weiße Dampfer« (1970), »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« (1981), »Die Richtstatt« (1987). In diesem Jahr überraschte er seine Leser nach längerem Schweigen mit einem neuen Roman: »Der Schneeleopard« erschien in einer Übersetzung von Friedrich Hitzer im Unionsverlag Zürich (320 S., geb., 19,90 EUR) und eroberte schon deutsche Bestsellerlisten. Aus Anlass dieser Publikation sprach Irmtraud Gutschke mit ihm.


ND: Ich schreibe langsam, das haben Sie mir vor dreißig Jahren schon mal gesagt. Aber zwischen Ihrem vorigen Roman, »Das Kassandamal«, und dem jetzigen, »Der Schneeleopard«, liegen 13 Jahre. Sind Sie die ganze Zeit mit dem neuen Buch »schwanger gegangen«? Oder hat es einen Anstoß dafür gegeben?

Aitmatow: Nun, ich habe während dieser Zeit manches erdacht, versucht und beiseite gelegt. Und entgegen meiner Aussage »Ich schreibe langsam« ist der Roman im vorigen Jahr ziemlich schnell, sozusagen in einem Zuge, entstanden.

Also gab es doch einen bestimmten Impuls. Im Roman sind ja drei Handlungsebenen miteinander verknüpft: konfliktreiche kirgisische Gegenwart, das Leben und Sterben eines Schneeleoparden und die Legende von der Ewigen Braut. Was war Ihr Ausgangspunkt beim Schreiben?

Sie wissen ja, dass mich das Verhältnis von Mensch und Natur seit jeher bewegt. Ein Anstoß mag gewesen sein, dass ich vom Deutschen Naturschutzbund gebeten wurde, die Schirmherrschaft der Vereinigung zum Schutz der Schneeleoparden zu übernehmen. Es gibt massenweise Präsidenten kleiner Länder, aber einen Präsidenten der Schneeleoparden gibt es nur einmal auf der Welt. Und der bin ich. Doch im Ernst: Das ehrenvolle Amt hat mich zum Nachdenken gebracht, wie Schneeleopard und Mensch miteinander verbunden sind.
Schneeleoparden wurden seit altersher von den Kirgisen verehrt. Sie leben in unzugänglichen Höhen in ihrer eigenen Welt. Dass jemand rein sei und stolz wie ein Schneeleopard, hieß es bei uns. Nur ganz selten haben Jäger sie zu Gesicht bekommen. Aber jetzt sind selbst diese Tiere durch das perfektionierte Jagdgeschäft bedroht.

Das heißt, das arabische Prinzen zum Jagen nach Kirgisien kommen, ist gar nicht erfunden?

Sowas findet tatsächlich statt. Reiche Ausländer kommen nach Kirgisien zur Jagd – mit Flugzeugen, Hubschraubern, Autos und allem an technischer Ausrüstung, was man sich denken kann. Auch die Adlerjagd ist so eine schicke Beschäftigung geworden. Am Straßenrand kann man sich neuerdings für drei Dollar mit gefangenen Adlern fotografieren lassen. Der stolze Vogel zum Spielzeug degradiert.

Ein Symbol für die Entwertung aller Dinge.

Ein Symbol für die Marktwirtschaft. Alles ist käuflich geworden.

Sie wohnen schon 17 Jahre im Ausland.

Das haben Sie richtig nachgezählt.

Straßburg und Brüssel – westliche Städte. Ist es Ihnen da nicht doch etwas fremd geworden, wie man in kirgisischen Dörfern lebt?

Überhaupt nicht. So wie ich war, bin ich geblieben. Dank der modernen Kommunikation ist man schnell über alles informiert und sozusagen aus der Ferne immer dabei. Außerdem bin ich oft in meiner Heimat.

Mich beeindruckt, wie drastisch, wie zugespitzt Sie die sozialen Probleme in Ihrem Land schildern. War der Schriftsteller nicht mitunter mit dem Diplomaten im Konflikt, der dem Staat gegenüber loyal sein muss?

Loyalität hat verschiedene Formen. Blinde Anhänglichkeit nützt niemandem. Probleme müssen kritisch angesprochen werden, um einen Ausweg zu finden.

Was für einen Ausweg denn?

Die Marktwirtschaft ist grausam. Sie kennt nur die Jagd nach Gewinn, den Kampf gegen die Konkurrenz. Wenn zu sowjetischen Zeiten die Ideologie alles dominierte, so sind wir jetzt davon frei, dafür aber ganz und gar dem Markt ausgeliefert. Ein typischer Vorgang ist, wie die Geliebte meines Buchhelden Arsen Samatschin, die Opernsängerin Aidana mit ihrer wunderbaren Stimme, sich der Unterhaltungsindustrie verkauft. Was mich schmerzt, das habe ich zur Sprache gebracht.

Ist das Buch schon in Kirgisien erschienen?

Russisch ist es erhältlich, so wie ich es geschrieben habe. Eine kirgisische Ausgabe kommt demnächst.

Ihr Name stand immer als Symbol für die Multinationalität der sowjetischen Literatur. Sie haben bei vielen Gelegenheiten die Bedeutung der russischen Kultur für Ihre Entwicklung hervorgehoben. Wie stehen Sie heute dazu?

Genauso wie früher. Ich möchte es sogar vertiefen. Wenn wir die Eigenständigkeit der nationalen Kulturen betonen, ist die russische Sprache gerade bedeutsam, weil sie Verbindungen schafft.

Wie man hört, soll man in den baltischen Staaten möglichst nicht versuchen, mit den Leuten auf der Straße russisch zu sprechen. Ist das in Kirgisien auch so?

Ach wo, Sie können sich auf Schritt und Tritt auch russisch verständigen. Das ist völlig normal. Es geht doch darum zu bewahren, was uns die Geschichte gegeben hat, und es nicht auf den Müll zu werfen. Das wäre nicht human und vor allem kurzsichtig.

Hat die Trennung von Russland Ihrer Heimat Vorteile gebracht?

Die Selbstständigkeit bietet natürlich auch Chancen für die eigene demokratische Entwicklung. So wie ihr in Europa lebt, könnte es ja auch einmal bei uns werden. Wie und wann, ist eine andere Frage.

Auf kirgisischem Territorium gibt es eine Militärbasis der USA.

Der Luftwaffenstützpunkt wurde unter dem Aspekt des Kampfes gegen den Terrorismus in Afghanistan eingerichtet.

Richtet sich so ein USA-Stützpunkt nicht auch gegen russische Interessen?

Das möchte ich nicht so sehen. Es gibt bei uns auch einen russischen Luftwaffenstützpunkt, der sogar größer ist. Ich gehe davon aus, dass die Amerikaner den Stützpunkt in Kirgisien räumen, wenn die Probleme in Afghanistan gelöst sind.

Sie haben an die Ideen Gorbatschows geglaubt wie so viele.

Ich habe auch jetzt zu Michail Sergejewitsch sehr enge Beziehungen. Wir sind ständig miteinander im Gespräch, diskutieren die verschiedensten Probleme.

Interessant. Wie denkt er denn selbst darüber, dass er einen offeneren, humaneren Sozialismus proklamierte, die UdSSR aber letztlich abgeschafft hat?

Ich glaube schon, dass es ihm darum ging, durch Glasnost und Perestroika der sozialistischen Idee neues Leben einzuhauchen. Aber er ist ein realistisch denkender Mensch. Er sieht: Das ist vorbei. Die kommunistische Idee in ihrer sowjetischen Ausprägung ist mit dem, was wir Globalisierung nennen, auf dem derzeitigen Entwicklungsstand nicht vereinbar. Die Marktwirtschaft hat ihre Gesetze, denen wir nicht entgehen können, und wir haben bei allen Schwierigkeiten die Chance, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben, die dem Einzelnen persönliche Freiheit garantiert.

In Ihrem Roman äußern Sie sich ironisch über diese Freiheit, die doch immer nur den Stärkeren dient. Aber was geschieht, wenn Menschen in ihrer Verzweiflung keinen Ausweg mehr wissen?

Das ist die ewige Qual des Menschen. Ob im zwischenmenschlichen oder im internationalen Maßstab, immer wieder gibt es Situationen, dass Menschen glauben, Gewalt anwenden zu müssen. Kämpfen und töten. So geht es auch Arsen Samantschin in meinem Roman, als er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Aber dann kommt er doch zur Besinnung. Er bereut. Um diese Reue geht es mir. Ich möchte, dass sich das auf den Leser überträgt. Reue – das ist die ewige Herausforderung des Menschen. Und glauben Sie mir: Selbst wenn alle auf Erden in Wohlstand leben würden, wäre die Gewalt nicht gebannt.

Arsen will sich eine Pistole besorgen in seinem hilflosen Zorn. Freilich kann man sich nicht vorstellen, dass er einen Menschen töten könnte. Aber hätte sein einstiger Klassenkamerad Taschtanbek solche Skrupel?

Es ist in der Tat ein Weltproblem, dass einzelne Menschen, in diesem Fall die arabischen Prinzen, einen kolossalen Reichtum angehäuft haben, während die Masse in größter Armut lebt. Dann spitzen sich die Konflikte zu. Man kann Taschtanbek verstehen, ja auf seine Weise hat er sogar Recht. Er ist ja nicht auf Blutvergießen aus. Er will von den Prinzen eine Summe, die für sie eigentlich eine Kleinigkeit ist.

Aber es hätte zu Blutvergießen kommen können?

Sicher. Ausgleich oder Blutvergießen.

Er wolle sich nur seinen Anteil an der Globalisierung holen, sagt Taschtanbek. Meinen Sie, solch eine Haltung könnte zu einer Massenerscheinung werden?

Derlei Konflikte sind vorauszusehen. Die Demokratie muss dafür Sorge tragen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht so weit vertieft, dass es zu Gewalt führt. Dass einige reicher sind als andere, das wird es immer geben, aber dass die Unterschiede dermaßen groß sind, erscheint mir in der Tat gefährlich. Mancher Oligarch besitzt so viel Kapital, wie mehrere Staaten zusammen nicht. Wenn einer zwei, drei Flugzeuge, mehrere Schiffe und Paläste an verschiedenen Orten der Welt sein Eigen nennt, und ein anderer kann für seine Kinder keine Schuhe kaufen, damit sie zur Schule gehen können, ist das nicht normal.

Wenn Sie Gewalt ablehnen, wie glauben Sie denn, könnte man besagten Ausgleich schaffen? Dass jene, die sich skrupellos bereichert haben, freiwillig etwas abgeben, ist doch nicht zu erwarten.

Aus eigenen Stücken tun sie das nie! Dazu braucht es eine Gesetzlichkeit, die große Vermögen in die Verantwortung für das Ganze nimmt. Putin hat ja dementsprechend einiges getan. Das Erdöl ist für Russland ein großes Kapital. Aus dessen Erträgen wurde ein besonderer Fonds geschaffen, um bedürftigen Menschen zu helfen, um medizinische Versorgung, Bildung und so weiter zu verbessern. Verstehen Sie, allmählich wird ein Ausgleich angestrebt. Wenn es nur nach den Interessen der Oligarchen geht, würden sie vielleicht diese oder jene Hilfe leisten, in dem Maße, wie es ihrem Ansehen nützt, aber das genügt nicht. Es muss zum System werden.

Eine Aufgabe des Staates meinen Sie?

Des Staates, der Öffentlichkeit und der Intellektuellen.

Aber Sie zeigen ja gerade in Ihrem Roman, wie die Intellektuellen in der Marktwirtschaft entmündigt sind und sogar noch jenes Prestige eingebüßt haben, das sie zu sowjetischen Zeiten hatten.

Sicher, das ist ja Arsen Samantschins Schmerz: dermaßen missachtet und ohnmächtig zu sein. Wenn die Intellektuellen in die Ecke geworfen werden, müssen sie dennoch immer wieder aufstehen und das Ihre sagen, müssen nach neuen Möglichkeiten der Einflussnahme suchen.

Das ewige Trotzdem. Der Begriff des Sozialismus …

... meint eine große historische Erfahrung. Es war ein Versuch, auf diese Weise die sozialen Fragen lösen zu wollen, die sich jetzt im Weltmaßstab wieder zuspitzen. Er ist misslungen. Das heißt nicht, dass man den Sozialismus verurteilen, gar hassen soll. Man muss nach neuen Wegen suchen, um sich seinen Idealen anzunähern.

Sie denken an künftige Generationen?

Sicher. Aber die Erfahrung unseres Scheiterns wird noch lange ein negativer Faktor sein.

Im russischen Original heißt Ihr Roman »Wenn die Berge einstürzen. Die Ewige Braut«. Gibt es diese Legende von der Ewigen Braut tatsächlich in Kirgisien?

Unter den Bewohnern der kirgisischen Hochgebirgsregionen ist sie lebendig. Wahrscheinlich liegt der Legende ein tatsächliches Ereignis zugrunde: Zwei Liebende wurden durch Verleumdungen getrennt. Und die Braut ist fortan auf ewiger Suche nach dem Bräutigam, der sich in seinem Kummer irgendwo versteckt hält: »Wo bist du, wo bist du, ich eile zu dir!« Ich kenne die Geschichte schon seit Kinderzeit, als die Großmutter mir Märchen erzählte und mich in die Berge mitnahm. Es gibt diesen Brauch: Bei Vollmond wird ein Feuer entzündet, das man weithin sehen kann, und die Legende wird erzählt und gesungen. Unter dem Sternenhimmel beginnen die Schamanen zu trommeln und zu rufen. »Ewige Braut, Ewige Braut, wir erwarten dich, komm zu unserem Feuer. Wie lange willst du umherirren, wie lange willst du suchen. Bist du denn nicht müde?«

Aber die Liebe wird nicht müde, darum geht es doch?

Ich verstehe diese uralte Geschichte so: Wenn die Kräfte des Bösen sich in das persönliche Leben der Menschen einmischen, wenn sie ihr Glück zerstören, dann darf das nicht vergessen sein. Die Menschen müssen sich ewig daran erinnern; es muss zur Legende, zum Mythos werden. Auf diese Weise kann das Gute, das ja auch immer in der Seele der Menschen lebt, wirken und reagieren. Wenn das alles vergessen wäre, könnte das Böse siegen. Aber die Ewige Braut ist unsterblich, sie lebt weiter im Gedächtnis von Generation zu Generation. Und alle leiden mit ihr mit, wenn sie die Legende hören. Man erhebt seine Stimme und stellt sich vor, sie könne irgendwo in der Nähe sein.

Tschingis Aitmatow war Botschafter der Republik Kirgistan bei der Europäischen Union in Brüssel. Er schreibt in russischer Sprache

Neues Deutschland, 26.05.07

www.umweltdebatte.de