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Die
Nadelöhre der Evolution
Frühere Erdzeitalter halten harte Lektionen bereit
Von Marko Ferst
Tiefenkenntnisse aus der Evolution des Lebens, den verschiedenen Erdzeitaltern,
können uns helfen besser zu verstehen, an welchen Scheidelinien
die Gattung Mensch angelangt ist. Bislang geht man von fünf großen
Massensterben in der Geschichte der Evolution aus mit unterschiedlichen
Ausmaßen, bei denen mehr als zwei Drittel der Arten verschwanden
am Ende des Ordovizium, Devon, Perm, Trias und der Kreidezeit. Insgesamt
rechnet man mit zehn deutlichen Einschnitten in den Lauf der Evolution.
Allerdings, so der Paläontologe Norman Macleod, darf dabei nicht
das Aussterben im Hintergrund vernachlässigt werden, Zeitintervallen,
die jenseits der „big five“ liegen, denn dort fand 95 Prozent
des Aussterbens statt. Verstärken sich normale Auslesevorgänge
durch verschiedene Umstände, können sie unter dem Strich ähnliche
Wirkungen auf die Evolution entfalten wie die großen Einschnitte.
Dennoch dürfte die Evolution stärker durch die verschiedenen
Katastrophen geprägt worden sein, als die Summe aller anderen Kräfte,
auch wenn evolutionäre Verläufe immer von zahlreichen Faktoren
geleitet werden.
Als die ersten Einzeller lebten, vereiste die Erde mehrfach komplett.
Vermutlich entwickelten sich bereits in der Zeit vor 4,2 bis 2,5 Milliarden
Jahren photosynthetisch aktive Organismen, die Sauerstoff produzierten.
Der Entzug von Kohlendioxid dürfte eine der Phasen von Komplettvereisung
der Erde hervorgerufen haben, die 100 Millionen Jahre andauerte. Mit
dieser Sauerstoffkatastrophe vor 2,4 Mrd. Jahren hätte sich die
Evolution fast selbst ins Aus katapultiert. Wäre die Erde geringfügig
weiter von der Sonne entfernt gewesen, Kohlendioxid an den Polen zu Eis
gefroren, so würde sie heute aussehen wie der Mars.
Tiere in großer Zahl tauchen erstmals vor 635 Millionen Jahren
auf, womöglich aber auch erst etwas später. Alle heutigen Tierstämme
gehen auf die kambrische Revolution zurück, 100 Millionen Jahre
darauf. Erst als der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre hoch genug
war, konnten die Tiere das Land erobern. Vor 400 Millionen Jahren zogen
zunächst sehr kleine Tierarten nach. Die Tausendfüßer
folgten den Skorpionen. Als der Sauerstoffgehalt wieder abnahm, wurden
Tiere an Land seltener. Amphibien stießen womöglich zwei-
oder dreimal auf das Land vor.
Am Ende des Ordovizium vor 445 Jahren leitete eine Eiszeit den ersten
Schub an Artenvernichtung ein, dem ein zweiter folgte. Dieses gilt als
das zweitstärkste Aussterbeereignis. Andere Forscher diskutieren über
einen Gammastrahlenausbruch, doch von sicheren Beweisen ist man weit
entfernt. Ein mariner Sauerstoffmangel begleitete sowohl das erste große
Aussterben als auch das vor 377 Jahren im Devon. Regenwälder an
Land entzogen der Luft CO2, sorgten für kühleres Klima und
damit für einen sinkenden Meeresspiegel. Viele Riffe und im Flachwasser
lebende Tiere gingen zugrunde.
Gründlich korrigiert werden mussten, so die Einschätzung von
Peter Ward und Joe Kirschvink in ihrem Band „Eine neue Geschichte
des Lebens“, die Zeiträume, in denen ein niedriger Sauerstoffgehalt
herrschte. Mehr als jeder andere Faktor bestimmte er die Artenvielfalt
bei Tieren. Ein hoher Gehalt sorgt für viele Arten, neue kommen
aber selten hinzu. Weniger Sauerstoff bedeutet, Arten sterben schneller
aus, als sie ersetzt werden und dennoch entwickeln sich mehr neue Arten.
Bei einem Rückgang der Sauerstoffkonzentration und gleichzeitiger
Temperaturerhöhung entstehen die größten Verluste.
In Phasen mit einer Sauerstoffkonzentration über 30 Prozent finden
sich Libellen mit einer Flügelspannweite von bis zu 75 Zentimetern,
Rieseninsekten überall. Für die Pflanzenwelt sind der-artige
Werte ungünstig, erzeugen Rückgang an Biomasse. In der Zeit
des Karbon verwandeln riesige Wälder sich in Kohlelager, geologische
Kapazitäten, aus denen wir heute dabei sind, das sechste große
Massensterben der Evolution zu zünden. Diese Lagerstätten,
ebenso wie Erdgas, Erdöl und Methaneis besitzen das Potential, atmosphärische
Aspekte früherer Erdzeitalter wieder herzustellen.
Vor 252 Millionen Jahren wurden 96 Prozent aller maritimen Arten ausgelöscht
und 75 Prozent an Land, das größte Massensterben aller Zeiten.
Der Superkontinent Pangäa erstreckte sich von Pol zu Pol und Macleod
weißt darauf hin, fast bis zum 60. Breitengrad, also auf die Höhe
von Oslo, reichten Trockengebiete, die nur durch einen dünnen Streifen
gemäßigten Klimas von polaren Arealen getrennt waren. Damit
befand sich das Leben bereits in einer sehr prekären Lage. Am Ende
des Perms kam es dann zu sehr hohem atmosphärischem CO2-Gehalt.
Die sibirischen Flutbasalte, gewaltige Vulkanfelder über 5,2 Millionen
Quadratkilometer, hatten daran strategischen Anteil. Vermutlich wurden
dabei riesige Kohlelagerstätten verbrannt, die globale Temperatur
stieg um fünf Grad. Säureregen dezimierte die Pflanzenwelt.
Die Meeresströmungen versiegten, CO2 versauerte die Ozeane. Am Ende
waberten Purpur-Schwefelbakterien in allen Ozeanen, die übelriechenden
und hochgiftigen Schwefelwasserstoff produzierten. Dies geschah vornehmlich
in Tiefenwasser. Dringt diese toxische Mixtur jedoch bis zur Oberfläche
durch und steigt in die Atmosphäre, stirbt nicht nur das Leben im
Meer, sondern auch die Tiere und Pflanzen an Land, die Ozonschicht wird
beschädigt.
Freigesetzte Methanhydrat-Lagerstätten lösten einen Supertreibhauseffekt
aus, die Temperatur stieg um weitere fünf Grad. In der ersten Million
Jahre nach dem Aussterben im Perm betrugen die Wassertemperaturen der
Ozeane über 40 Grad und der Großkontinent Pangäa wurde
bei 60 Grad gegrillt. Organismen konnten nur in den hohen Breiten eine
minimale Überlebens-Chance haben und es dauerte Millionen Jahre,
bis sich das Leben von diesem Extremschock erholte.
Was im Perm gigantische Magmafelder erledigten, ist heute ein Produkt
unserer industriellen Megamaschine. Bei allen Unterschieden in der Land-Meerverteilung
und anderen Faktoren, zeigt dieses Massenaussterben glasklar, wie extrem
effektiv ein ungebremster Treibhauseffekt die Evolution beinahe auslöschen
kann. Einst gehörten die unterirdisch lebenden Lystrosaurus zu den
wenigen Überlebenden. Ob der Mensch aber nach einem sechsten Massensterben
noch eine Chance hat, dürfte je nach Ausmaß, alles andere
als sicher sein.
Die Permkatastrophe ebnete den Säugetieren den Weg, doch die größte
und gefährlichste Konkurrenz, die Dinosaurier, bekamen in der nächsten
Epoche ihren Auftritt. Sie konnten schneller alle Lebensräume besetzen
als andere Arten. Aber erst mit dem Anstieg der Sauerstoffkonzentration
auf 15-20 Prozent setzte ihr wirklicher Siegeszug ein, so Ward und Kirschvink.
Bevor dieser unaufhaltsam wird, folgt am Ende des Trias ein weiteres
Massenaussterben. Vulkanismus beim Auseinanderbrechen von Pängäa
oder ein Meteorit könnten die Ursache gewesen sein.
Auf allen Planeten und Monden unseres Sonnensystems mit fester Oberfläche
finden sich Einschlagkrater, besonders aus der Frühzeit. Ein solcher
Einschlag veränderte an der Kreide-Paläogen-Grenze vor 65 Millionen
Jahren den Lauf der Evolution grundlegend. Große Teile der Pflanzenwelt
müssen verbrannt sein, saurer Regen fiel. Besonders tödlich
aber dürfte die folgende Abkühlung, ein langer Winter, gewirkt
haben. Für einige Jahre gelangte deutlich weniger Sonnenlicht auf
die Erde. Die Niederschlagsmengen gingen anfangs um 90 Prozent zurück.
75 Prozent aller biologischen Arten verschwanden. Für Winzlinge,
kleine Säugetiere, öffnete sich diesmal das Fenster der Evolution.
Nur kleine Lebewesen überlebten. Insgesamt entwickelte sich eine
der größten Wellen von Artenbildungen.
Bereits neun Millionen Jahre nach dem Verschwinden der Dinosaurier, ist
ein weiterer, wenn auch „kleiner“ Einschnitt zu verzeichnen.
Für 10000 Jahre kam es zu einem neuen Temperaturmaximum, dem sogenannten
PETM. Wieder einmal machten Vulkane von sich reden. Die Welt wurde fünf
bis neun Grad heißer als heute. Ohne Eispole lag der Meeresspiegel
damals rund 70 Meter höher. Freilich muss man berücksichtigen,
die Becken der Ozeane könnten durch die Kontinentaldrift differierende
Volumen gehabt haben. Methaneis dürfte an diesem Klimaschock beteiligt
gewesen sein. Methan ist 20 mal so klimawirksam wie Kohlendioxid und
oxidiert nach zehn bis 20 Jahren zu langlebigeren CO2. Jedenfalls gibt
dieses Ereignis, 30 bis 50 Prozent der Arten wurden ausgelöscht,
eine ganze Menge aufschlußreicher Hinweise, wie die durch uns entfachte
Klimakatastrophe enden könnte. Insbesondere, wenn große Teile
der Methanhydrate an den Festlandsockeln der Ozeane und im Permafrostboden
freigesetzt werden, wird das ein Ritt durch die Hölle für die
heutige Zivilisation. Wenn man der Argumentation von Schellnhuber in
seinem Buch „Selbstverbrennung“ folgen will, heißt
zwei Grad globale Temperaturerhöhung in späteren Jahrhunderten,
dass Berlin am Meer liegt und bei weiteren Zunahmen, die Küste weltweit
an die Ränder von Mittelgebirgen und anderen Höhenzügen
vordringt.
Der evolutive Erfolg des Menschen ist bislang unübersehbar, die
wirkungsvolle Heilung von Krankheiten sowie Pflanzen- und Tierzucht sind
dabei wichtige Aspekte, die der natürlichen Auslese Grenzen setzen.
Aber keine Art bleibt unter allen Bedingungen und zu allen Zeiten im
Vorteil, so Franz M. Wuketits. Gerade die extreme Ausweitung unserer
Population in Richtung neun Milliarden Individuen bedeutet für die
meisten anderen Arten, sie verlieren Lebensräume in gigantischem
Umfang. Auch wenn wir die Zahl der heutigen Pflanzen- und Tierarten nicht
genau abschätzen können, so läßt sich trotzdem grob überschlagen
aus der Rate der Regenwaldvernichtung, dass wir etwa 300 bis 400 Arten
pro Tag ins Jenseits schicken, vielleicht sogar mehr, wenn die Korallenriffe
als zweiartenreichstes Refugium einbezogen würden. Allein die Anzahl
der Tiere auf unserem Planeten dürfte sich laut dem Living Planet
Index seit 1970 um 52 Prozent reduziert haben. Bei diesem sechsten Massensterben
nützt es uns dann kaum, dass unsere Geoepoche womöglich die
größte Artenvielfalt in der Evolution gehabt hat.
Eine Prognose über die langfristige Zukunft der Evolution zu geben,
halten Ward und Kirschvink für riskant. Der Zufall und die Evolution
können zu überraschenden Ergebnissen führen, Einschläge
von Asteroiden in späteren Zeitaltern lassen sich nicht vorhersehen.
Die Helligkeit unseres Zentralgestirns nahm in den letzten 4,5 Milliarden
Jahren um 30 Prozent zu. Über die nächsten 500 Millionen Jahre
wird der CO2-Gehalt der Atmosphäre deutlich abnehmen, weil bedingt
durch die Plattentektonik die Kontinente größer werden, mehr
Kohlenstoff in Kalkstein gebunden werden kann. Silikatgestein verwittert
schneller bei höheren Temperaturen und entzieht der Atmosphäre
CO2. Die wärmere Sonne wird den sinkenden Kohlendioxidgehalt der
Atmosphäre mehr als ausgleichen. Der Sauerstoffgehalt dürfte
soweit zurückgehen, dass tierisches Leben nicht mehr möglich
ist. Pflanzen, die mit niedrigem Kohlendioxidgehalt auskommen, werden
immer stärker dominieren und sich entwickeln, bis auch sie verschwinden.
Das Leben von Cyanobakterien könnte noch eine Weile weitergehen,
bevor die letzten Lebenszeichen unter Sanddünen verschwinden, der
Planet die habitable Zone im All verläßt.
Tips
Peter Ward und Joe Kirschvink versuchen in ihrem Band „Eine neue
Geschichte des Lebens. Wie Katastrophen den Lauf der Evolution bestimmt
haben“ den aktuellen Erkenntnisstand aufzuzeigen, es ist ein Überblickswerk,
das oft bis in die Steinbrüche der Professoren führt und dem
Leser einiges abverlangt, um den interessanten Forschungsgängen
folgen zu können. Norman MacLeod versucht in seinem Band „Arten
sterben. Wendepunkte der Evolution“ zu ergründen, warum Arten
im Werdegang der Evolution verschwinden, welche Faktoren dafür zentral
sind. Zahlreiche Bilder und Grafiken illustrieren den Band anschaulich.
Schwachpunkt beider Bücher ist das aktuelle Artensterben, das sie
nur sehr unzureichend charakterisieren. Eine Einführung dafür
liefert Elizabeth Kolbert „Das sechste Sterben. Wie der Mensch
Naturgeschichte schreibt“. Sie zeigt am Beispiel des globalen Froschsterbens
oder dem Schicksal der amerikanischen Kastanie, wie rasant Arten verschwinden
können, die eben noch häufig vorkamen.
erschienen in der Tatantel, Zeitschrift der Ökologischen Plattform
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